Frau vom November-Dezember 2018

Feministische Theologinnen im Porträt: Simone Rudiger

1. Welchen Stellenwert hat feministisches Gedankengut innerhalb deiner Arbeit?
Ich arbeite in einer Pfarrei und einer Klinik als Seelsorgerin. Immer sind mir Gerechtigkeit und die Ermächtigung von Menschen wichtig. Dass alle möglichst in Freiheit so leben können, wie es einem guten Leben für sie entspricht. Das damit ein gutes Leben für alle möglich(er) wird, bleibt meine ganz grosse Hoffnung.

2. Wie fliesst feministische Theologie in deine Arbeit ein und wie kommt sie bei deinen Adressat*innen an?
Ich lasse Erkenntnisse und Errungenschaften der feministischen Theologie möglichst oft zur Geltung kommen. Ich entdecke immer wieder Neues im Gespräch mit Kolleg_innen, beim Nachforschen und Lesen. So wird mein Wissen in feministischer Theologie ständig erweitert. Es ist äusserst spannend!
Grundsätzlich mache ich gute Erfahrungen mit Gesprächspartner_innen in der Seelsorge, Mitfeiernden im Gottesdienst und meinen Kolleg_innen im Pfarreiteam. Aber natürlich weiss ich nicht immer, wie etwas ankommt.

3. Bist du eher anwaltschaftlich (feministisch) oder eher beschreibend (gender) unterwegs
Mit dieser Unterscheidung kann ich grad nicht soviel anfangen… Ich würde sagen, ich tue das Eine, ohne das Andere zu lassen und umgekehrt. Die beiden Aspekte ergänzen und bedingen sich meines Erachtens gegenseitig. Beschreibung alleine reicht mir nicht, es muss ins Handeln kommen. Andererseits ist analytisches Denken vor dem Handeln unerlässlich.

4. Braucht es in den Kirchen noch ‚Frauenförderung‘‘ oder ist die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern schon Realität?
Leider ist diese Frage in der römisch-katholischen Kirche, der Konfession, in der ich beheimatet bin, noch immer eine rhetorische. Das Fehlen eines Penisses verunmöglicht die Weihe von berufenen Menschen: Das ist ein Skandal!
Gleichstellung der Geschlechter ist in unserer Gesellschaft noch nicht praktische (und oft nicht mal theoretische) Realität. Die Kirche(n) nehmen da leider keine Vorreiterinnenrolle ein.
Der Begriff „Frauenförderung“ klingt in meinen Ohren recht veraltet: Wir müssen uns alle fördern nicht mehr nur in binären (zwei gegensätzlichen) und vermeintlich eindeutigen Kategorien zu denken, gerade wenn’s um „Geschlecht“ geht.

5. Wie bekommen für dich deine Überzeugungen Hand und Fuss?
In Gesprächen, in Entscheidungsprozessen, bei der Wahl von Themen für eine Veranstaltung, sei dies Senior_innennachmittag oder Bildungsanlass zur ökumenischen Kampagne. Und selbstverständlich in Ritualen und Gottesdiensten von der Liedwahl, über die Formulierung von Gebeten, bis hin zur Auseinandersetzung mit Bibeltext und Predigtgedanken. Immer geht es mir um Gerechtigkeit und befreiendes Denken und Handeln. Ich versuche Gedanken, Wort und Tat möglichst in Übereinstimmung zu bringen, also konsequent zu leben. Das ist einfacher gesagt, als getan und bleibt eine Herausforderung!

Das Interview führte Esther Gisler Fischer, Oktober 2018