Frau des Monats November/Dezember 2023

Interview mit Judith Stofer

 

Ich bin 64 Jahre alt,
seit dem 1. Mai 2023 pensioniert,
unverheiratet, Single und
alleinerziehende Mutter einer erwachsenen Tochter.
Ich bin weiterhin in der Politik aktiv
und als Journalistin tätig.

 

1. Wie bist du im Verlaufe deines Lebens zur Feministischen Theologie gestossen und welche Protagonistinnen haben dich da geprägt?
Ich habe ab 1980 Theologie an der Universität Fribourg studiert. Die ersten zwei Studienjahre waren sehr intensiv, bereichernd und interessant, haben mich aber auch etwas desillusioniert. Die Männerdominanz in der Lehre, in Schriften und Büchern war erschlagend. Nach diesen zwei Jahren überlegte ich mir, ob ich umsatteln sollte. Da tauchte die Feministische Theologie auf. Sie hat mich gerettet. Endlich hatte ich eine Grundlage, die auch etwas mit meinem konkreten Leben zu tun hatte. Ich schloss das Theologiestudium mit dem Lizentiat ab.

2. Wo warst du selbst tätig und hast Feministische Theologie mitentwickelt, auf die Welt gebracht und/oder weitervermittelt?
Beruflich war ich nach dem Studium als freischaffende Journalistin mit dem Schwerpunkt Religion & Gesellschaft tätig. In den letzten sieben Berufsjahren vor meiner Pensionierung habe ich als politische Sekretärin in einer Mediengewerkschaft gearbeitet. Zudem bin ich seit 2011 aktiv in der Politik: ich bin Zürcher Kantonsrätin (bis heute). Politik ist eine Konstante in meinem Leben. Bereits als junge Frau war ich bei der feministisch-politischen Organisation für die Sache der Frau (OFRA) aktiv. Mit feministischer Theologie habe ich mich in meiner Freizeit beschäftigt. Ich habe während vieler Jahre in einer feministisch-interreligiösen Gruppe (christlich-jüdisch-muslimisch) mitgearbeitet. Zwei immer noch sehr lesenswerte Bücher sind dabei entstanden: «Siehe, ich schaffe Neues. Aufbrüche von Frauen in Protestantismus, Katholizismus, Christkatholizismus und Judentum», eFeF Verlag 1998. Ich bin Autorin und Mitherausgeberin wie auch beim Buch «Körperlichkeit. Ein interreligiös-feministischer Dialog», Religion&Kultur Verlag 2007.

3. Welchen Stellenwert hatte feministisches Gedankengut innerhalb deiner Arbeit und wie floss feministische Theologie in deine Tätigkeiten ein?
Feminismus ist eine Konstante in meinem Leben. Feministische Theologie hat mich gelehrt, kritisch zu hinterfragen, in die Tiefe zu gehen, Unsicherheiten auszuhalten, Neues zu wagen und den roten Faden nicht zu verlieren.

4. Welche Ansätze und Methoden sind dir besonders wichtig?
Mich haben einige Autorinnen geprägt: Mary Daly, Judith Plaskow, Carol P. Christ, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Rosemary Radford Ruether und Gertrud Heinzelmann. Sie begleiten mich seit mehr als 40 Jahren durch mein Leben.

5. Gab es Reaktionen aus deinem Umfeld auf deine feministische Theologie/Arbeit?
Wenn ja, welche?
Als feministische, linke Politikerin erhalte ich viele Reaktionen. Manchmal werde ich angefeindet, manchmal ausgelacht, sehr oft hört man mir zu. Doch es bewegt sich zu wenig. Es gibt noch viel zu tun.

6. Wie schätzt du die gegenwärtige Situation von Frauen in Kirche, Gesellschaft etc. ein? Was wünschst du dir für die Zukunft der Frauen?
Die Kirche verliert immer mehr als gesellschaftlicher Player. Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, die nun auch in der Schweiz nicht mehr weg geredet werden können, haben der katholischen Kirche das Genick gebrochen. Ich denke, sie wird sich nicht mehr erholen. Selbstbewusste Frauen sollen das Ruder übernehmen und etwas Neues und Lebendiges aufbauen.

7. Falls zutreffend: Was waren die Gründe, weshalb du dir eine Tätigkeit ausserhalb der Kirche gesucht hast?
Für mich als denkende Frau gab es nie einen Platz in der katholischen Kirche. Das habe ich schon sehr früh wahrgenommen. Ich wollte mich nie verleugnen, darum war es für mich klar, dass ich nicht Teil dieser Kirche werde.

8. Wie bekommen für dich deine Überzeugungen nach wie vor Hand und Fuss?
Als kantonale und lokale Politikerin setze ich mich für ein gutes Leben für alle in diesem Land und meinem Kanton, dem Kanton Zürich, ein. Ich lasse mich von den feministischen Theologinnen leiten, die mich hauptsächlich während meines Studiums geprägt haben.

Literaturhinweise:
– Siehe, ich schaffe Neues Aufbrüche von Frauen in Protestantismus, Katholizismus, Christkatholizismus und Judentum hg. von Doris Brodbeck, Yvonne Domhardt, Judith Stofer
– Körperlichkeit – ein feministisch-interreligiöser Dialog | Stofer, Judith, Lenzin, Rifa‘ at

Vielen Dank!
Das Interview führte Esther Gisler Fischer.