Frau des Monats Mai/Juni 2023

Interview mit Agnes Leu


* 1958
Theologiestudium & Ausbildung auf dem 2. Bildungsweg in Bern
1988 – 1996 Jugendarbeit, kirchlicher Unterricht und Pfarramtliche Tätigkeiten im Kt. Bern
1997 – 2012  Studienleiterin im Forum für Zeitfragen, Basel
2012 – 2021  Evang.-reformierte Pfarrerin und Seelsorgerin, Gesamtkirchgemeinde Biel, Bern und Lengnau BE
Ab 2022  Teilpensum als Pfarrerin in Lengnau BE
Pensionierung in Planung.

Ich bin gerne in Bewegung, in der Natur, lese viel, liebe Poesie und interessiere mich für Kunst und alles Schöpferische. Mit meinem Partner möchte ich mehr gemeinsame Zeit verbringen und unseren Interessen nachgehen. Ich möchte mehr Zeit um private Kontakte zu pflegen, insbesondere zu meinen 2 Töchtern und den 3 Enkeln.

1. Wie bist du im Verlaufe deines Lebens zur Feministischen Theologie gestossen und welche Protagonistinnen haben dich da geprägt?

„Du bisch en Ruach“ – ein wildes Kind – ungestüm. Es sollte etwas braver sein, besonders ein Mädchen. Aber was machen mit so viel Energie? Wenn es gerne herumstürmt und rennt, den Wind liebt, der ihm um die Nase weht, bis es ausser Atem, mit rotem Kopf, lachend und glücklich ins Haus zurückkehrt? Das Kind wurde erwachsen und vergass den Ausdruck, bis es bei der feministischen Forschung auf ein ganz neues Verständnis von «ruach» stiess.

Als Studienanfängerin an der theologischen Fakultät der Uni Bern 1982 kam mir das Buch von Mary Daly «Jenseits von Gottvater, Sohn & Co.» unter die Augen. Ihr radikales Denken prägte und erschütterte mich. Es öffnete mir die Augen für unser Gesellschafts- und Wertesystem und für mein Unbehagen und meine Unsicherheit, die ich als junge und suchende Frau empfand. Ich träumte von einem selbstbestimmten Leben, wollte mir mehr Wissen aneignen können. Als ich von einer Gruppe von Pfarrherren eingeladen wurde, die u.a. wissen wollten, was denn die junge Studierende so liest, erzählte ich von der Lektüre von Mary Daly. Ich wurde nicht nur nicht ernst genommen, sondern sogar «abgekanzelt» und zum Verstummen gebracht. Diese peinliche Begegnung stachelte meine Wut und Neugier noch mehr an. Da ich schon länger mit der politischen Frauenbewegung in Kontakt war, fand ich ein neues Umfeld von Frauen, die sehr aktiv waren und für Gleichstellungs-forderungen auf die Strasse gingen. Eine Begegnung mit Ursa Krattiger und ihrem Buch «Die perlmutterne Mönchin» machten mir Mut. Ich las die Bücher von Catharina Halkes und Elisabeth Moltmann-Wendel, von Christa Mulack, Elga Sorge, Carter Heyward, u.a.. Zudem hatte ich das Glück, an Tagungen an der Paulus-Akademie Zürich auf viele weitere Frauen zu treffen: Ältere und jüngere, in der Frauenbewegung engagierte Katholikinnen und Frauen aus dem universitären Bereich, die Interesse am Kontakt mit den sogenannten «Basisfrauen» hatten. In einer Sommerkurswoche in der Paulus-Akademie lernte ich katholische Theologinnen kennen, die mich auf meinem Weg begleiteten wie Doris und Silvia Strahm und Li Hangartner, die ersten Redaktorinnen und Herausgeberinnen der FAMA. Ebenso kam ich in Kontakt mit «Labyrinth-Frauen» wie Agnes Barmettler und Rosmarie Schmid. Und in der Sommeruniversität der «Villa Kassandra» im Jura begegnete ich u.a. den Historikerinnen Elisabeth Joris und Heidi Witzig.

In dieser Zeit war ich Mitbegründerin einer Frauengruppe an der theologischen Fakultät der Universität Bern. Wir lasen die Bücher der fem. Theologinnen wie z.B. die «Frau am Anfang» von Helen Schüngel-Straumann. Sie und ihre Stiftung der fem.-theologischen Bibliothek lernte ich später in Basel kennen.

An der Universität Bern initiierten wir mit Unterstützung der Professoren fem.-theologische Veranstaltungen. Wir konnten Li Hangartner zu einem Seminar einladen und Doris Strahm zur Vorlesungsreihe «Einführung in die feministische Theologe – Aufbruch zu neuen Räumen». Auch Elisabeth Moltmann-Wendel wurde zu einem Vortrag eingeladen. Das Interesse – nicht nur von Frauen – war riesig.

In der Evangelischen Unigemeinde, die ich während der ganzen Studienzeit besuchte, traf ich auf sehr offene Menschen und Studierende aus verschiedenen Fakultäten. Wir redeten auch dort über feministische Theologie und eine Gruppe Frauen traf sich regelmässig für Jahreszeitenfeste- und Rituale. Die Abgrenzung zwischen politischen und spirituellen Frauen etc. gab es damals noch nicht. Ich konnte aus dem Vollen schöpfen.

2. Wo warst du selbst tätig und hast Feministische Theologie mitentwickelt, auf die Welt gebracht und/oder weitervermittelt?

Nach dem Abschluss des Theologiestudiums und der Ordination arbeitete ich ein paar Jahre in einer Kirchgemeinde mit Schwerpunkt «Jugendarbeit und Unterricht». Es kam zur Familiengründung und ich bekam zwei Töchter. Danach arbeitete ich teilzeitlich als Pfarrerin und besuchte eine Weiterbildung in Erwachsenenbildung.

Schon als Studentin suchte ich einen Weg, mich auch mit dem Körper auszudrücken. Ich fand nach längerem Suchen bei Ursula Stricker in Bern, Lehrerin für Tanz und Bewegung, einen offenen Raum für Kreativität und Weiterentwicklung meiner Spiritualität. Einzelne Elemente baute ich jeweils in meine Arbeit ein. Noch heute besuche ich ihre «Placement»-Kurse.

Als im «Forum für Zeitfragen» Basel eine feministische Theologin für die Leitung der Frauenprojektstelle gesucht wurde, bekam ich die Chance, mich von 1997 bis 2012 als Studienleiterin mit den Themen, die mich wirklich umtrieben, einzubringen. Hier war Raum für Ideen, Projekte, Veranstaltungen, für Vernetzung und ökumenische Kontakte. Ich arbeitete mit anderen Frauen- und Genderstellen zusammen, die in diesem Jahrzehnt in fast allen Deutschschweizer Kantonalkirchen entstanden waren.
Wir organisierten das «ökumenische Frauenkirchenfest 1999» in Basel, das Projekt «Labyrinth-Platz Basel» konnte 2002 auf dem Leonhards-Kirchplatz realisiert werden und die 3. Schweizer Frauensynode «anders – wie denn sonst?» fand im Jahr 2004 statt. Auch Frauen-Feiern gehörten zum regelmässigen Angebot. Zur Vermittlung von feministischer Theologie gab es Basiskurse in feministischer Theologie, Vorträge und Seminare von Preisträgerinnen des Marga-Bührig-Preises, Exkursionen zu Felszeichnungen und in den Tarot-Garten von Niki de Saint-Phalle u.a. Kontakte und Veranstaltungen fanden sich mit den «Frauen für den Frieden Basel» u.a. das Projekt «1000 Frauen für den Friedensnobelpreis». Weiter gab es Aktionen zum 8. März mit Gewerkschaftsfrauen und anderen Frauenorganisationen in Basel, die Teilnahme am Frauenstreiktag sowie Aktionen gegen Gewalt an Frauen.
Als die Frauenprojektstelle im «Forum für Zeitfragen» als solche nicht mehr weitergeführt wurde, blieben zwar Frauen- und Genderfragen im Fokus, doch die Stelle wurde gekürzt. So übernahm ich eine Anstellung als Seelsorgerin in einem Pflegezentrum in Bern. Als Seelsorgerin und Begleiterin von Menschen in der letzten Lebensphase, machte ich bereichernde Berufserfahrungen. Authentizität, Offenheit und Empathie waren gefragt sowie Reflexionen über das gelebte und ungelebte Leben. Ich schätzte die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Pflegenden. 2012 begann ich als Gemeindepfarrerin in der Kirchgemeinde Biel zu arbeiten. Dort war ich verantwortlich für den Bereich Sozialdiakonie.
Seit 2022 arbeite ich nur noch in einem Teilzeitpfarramt in der Kirchgemeinde Lengnau/BE.

3. Welchen Stellenwert hatte feministisches Gedankengut innerhalb deiner Arbeit und wie floss feministische Theologie in deine Tätigkeiten ein?

Die Arbeit im «Forum für Zeitfragen» stand ganz im Zeichen der feministischen Theologie und Sensibilisierung für Frauen- und Genderthemen. Der Kreis der Interessierten und Beteiligten bestand mehrheitlich aus gut gebildeten, kirchenkritischen oder kirchenfernen Menschen.

In der Gemeindearbeit, die ich seit 2012 als Pfarrerin und Seelsorgerin ausübe, habe ich mit anderen Kreisen zu tun. Im Gottesdienst rede ich gendersensibel, benütze alternative Bibeltexte, lasse Frauen sprechen und bin für Begegnungen und Gespräche da. Die Ausgestaltung der Liturgie ist bei mir beeinflusst von den Erfahrungen mit Frauengottesdiensten und der Körperarbeit. Die Gottesdienste werden wie überall mehrheitlich von älteren Menschen besucht. Auffallend ist, dass sich bei mir immer wieder ältere Männer zu Gesprächen meldeten, die aufgrund meiner Predigtgedanken selber kritische Anfragen an die bisherige Theologie und die Kirche hatten.
Zum Jubiläum «50 Jahre Frauenstimmrecht» konnten wir in Biel eine Predigtreihe «Helvetia predigt» durchführen. Das Interesse meiner jüngeren Pfarrkolleginnen an feministischer Theologie blieb mässig.
In der Kirchgemeinde Biel konnte ich während mehreren Jahren mit gleichaltrigen Frauen Frauenthemen in einer Gesprächsgruppe ansprechen. Da wir sehr unterschiedliche Biografien hatten, begegneten sich verschiedene Welten.
Im Reformationsjahr 2017 beteiligte ich mich in Biel beim Projekt einer Namensgebung für ein umgebautes Haus der Kirchgemeinde. Es war eine lustvolle Zusammenarbeit mit Frauen aus der Gemeinde, initiiert von Luzia Sutter Rehman vom «Arbeitskreis für Zeitfragen».

4. Welche Ansätze und Methoden sind dir besonders wichtig?

Fragen und Hinterfragen der «göttlichen Ordnung». Den Menschen zuhören und ihre Fragen aufnehmen. Interesse für die Menschen zeigen und ihre Geschichten. Empowerment und Ermutigung, Fragen zu stellen und eigene Wege zu gehen. Es brauchte immer einen langen Atem und Geduld in (Seelsorge-)Gesprächen, auf wahrhaftige Fragen zu kommen. Boden schaffen für Vertrauen, für die Fragen, die die Menschen umtreiben, ihre Suche nach Spiritualität. Viele Menschen, die ich kennengelernt habe, hatten bisher keine Gelegenheit gehabt, mit einer Pfarrerin zu reden. Dem Unbehagen auf die Spur gehen und sich auf unkonventionelles Denken einlassen. Sich überraschen und anstecken lassen von anderen Denkweisen. Kehren und Wenden, wie bei einer Labyrinth-Begehung, in die Mitte und zurück, den Fragen aus einem anderen Blickwinkel begegnen. Sich durch Poesie und Kreativität anstecken und überraschen lassen und den vielen Möglichkeiten, die uns das Leben gibt.

5. Gab es Reaktionen aus deinem Umfeld auf deine feministische Theologie/Arbeit? Wenn ja, welche?

Im privaten Bereich waren die Reaktionen von Zustimmung bis Ablehnung immer da.
Im beruflichen Umfeld hatte ich als Studienleiterin viele Kontakte zu Gleichgesinnten und erhielt viel Motivation und Unterstützung. Ich war gut eingebettet. Im Pfarrberuf war es wieder schwieriger. Ich spürte den Respekt der Pfarrkollegen, dennoch war ich einem anderen Klima ausgesetzt. Von Seiten der Gemeindemitglieder kamen immer wieder positive Reaktionen, weil ich ihre Lebenserfahrungen und ihr Interesse an Lebens-Geschichten teilte und ihre kritischen Fragen gegenüber der Institution Kirche und der Religion ernst nahm.

6. Wie schätzt du die gegenwärtige Situation von Frauen in Kirche, Gesellschaft etc. ein? Was wünschst du dir für die Zukunft der Frauen?

Meine Gedanken mache ich nicht nur als Frau oder Theologin oder als Individuum in der heutigen Gesellschaft, sondern als Mensch, beyond sex. Viele jüngere Frauen treten heute sehr selbstbewusst auf, haben eine gute Ausbildung, üben ihren Beruf aus und haben Kinder. Sie engagieren sich politisch, sind gut vernetzt und melden sich laut zu Wort. Schwieriger wird es, wenn es um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht und die Frauen alles unter einen Hut bringen wollen. Es stellt sich für mich die Frage: auf welche Weise haben die Kirchen Anteil genommen an der Frauenbewegung? Ich sehe es nicht. Zum Beispiel war der Frauenstreik ein grosser Erfolg, weil er Generationen verband. Ich traf dort auf meine Töchter, ohne dass wir uns abgesprochen hatten.
Die politische Einmischung und das gesellschaftliche Engagement sollen nicht aufhören. In der Kirche fehlt die jüngere Generation. Aus welchem Grund fühlt sie sich nicht angesprochen? Schon die ältere Generation begann sich zu distanzieren und verlor den Anschluss. Warum hat die Kirche aufgehört für die Menschen von Bedeutung zu sein? Warum hat die Kirche aufgehört, wichtig zu sein für ethische, moralische und gesellschaftliche Fragen? Die Kirche scheint taub, blind und stumm gegenüber den Fragen der modernen Gesellschaft. Alle Vorschläge und Analysen betreffend unserer modernen Gesellschaft scheinen ins Leere zu fallen. Es ist augenfällig: Die Kirchen leeren sich. Die Sehnsucht nach Spiritualität und Transzendenz des menschlichen Handelns ist da. So wie die Kirche sich präsentiert, kann sie die meisten (jungen) Menschen nicht ansprechen. Sie ist eine zu schwerfällige Institution und hilft nicht unbedingt bei der Orientierung.
Heute liegen Themen wie Klimawandel, Ausbeutung unserer Ressourcen, Krieg und Gewalt im Fokus der Sozialen Medien. Diese Themen werden irgendwelchen Händen überlassen, die die Leere mit Hass, Verschwörungstheorien und Verlust der Hoffnung in die Menschen und in die Gesellschaft füllen. Sie stiften Verwirrung. Ohne die ethisch-moralische Analyse der Gesellschaft geht die Orientierung verloren. Die transzendentale Obdachlosigkeit und die Leere nehmen zu. Wo findet sich Gemeinschaft? Kaum in den Social Medias. Die Menschen und die Gesellschaft brauchen eine Utopie. Ohne sie können sich die Menschen und die Gesellschaft nicht weiterentwickeln. Für mich sind Frauenthemen: Gewalt gegen Frauen, Engagement für den Frieden, Umgang mit unseren Ressourcen, Klimawandel, Achtung der Menschenwürde u.a. immer noch hoch relevant. Wir können diese Themen nicht delegieren. Die junge Generation ist stark betroffen. Sie braucht unsere Präsenz, unser Engagement, unsere Ideen und Utopien.

8.Wie bekommen für dich deine Überzeugungen nach wie vor Hand und Fuss?

In der Begegnung, dem Austausch und der Begleitung von Menschen auf ihrer Suche nach Spiritualität. In den Reflexionen über das Leben und die Gültigkeit von Leben und Transzendenz. Ich will mich von den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht entmutigen lassen. Viele gute Erfahrungen erlauben mir «mitten im Alltag» immer wieder aufzustehen. Und Viel Motivation geben mir meine Enkelkinder.

Danke für deine Antworten!
Das Interview führte Esther Gisler Fischer