Frau des Monats November/Dezember 2021

Interview mit Verena Hungerbühler-Flammer

 

Geboren wurde ich 1943 in Kreuzlingen.
Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in St. Gallen gelebt
und bin jetzt in Wittenbach zuhause.
Ich war verheiratet.
Unsere zwei Töchter sind 1972 und 1973 geboren.

 

 

Feministin

Nach meinen Ausbildungen als Krankenschwester und Hebamme gehörte ich zu den medizinischen Hilfsberufen (!); -Frauenberufe in denen ich mit Frauen zusammen lebte, lernte und arbeitete. Das Frauenspezifische war selbstverständlich und ich habe mich da wohl gefühlt. In der Geburtshilfe sind mir allmählich die Geschlechterunstimmigkeiten bewusst geworden. Frauen haben Kinder ausgetragen und geboren, Hebammen haben sie begleitet und die Ärzte, – in meiner Berufszeit nur Männer-, haben die Geburten als ihre Leistung zelebriert. Die Anfänge meines feministischen Denkens wurden im Gebärsaal geboren.

Theologin

Parallel zur Berufsausbildung habe ich den Glaubenskurs, danach den Katechetikkurs besucht. In eine katholische Familie geboren, wollte ich meine selbstverständliche Kirchenzugehörigkeit besser verstehen. Das war 1962, mit dem Beginn des Konzils. Vieles war auf Erneuerung eingestellt, die Dozenten, zum Teil Konzilsteilnehmer haben uns begeistert. In der Liturgiereform hat sich sichtbar viel verändert: Die Gottesdienste sollten den Menschen näher sein. Sie werden von Männern zelebriert. Sie kümmern sich nicht um das eigene Essen, sie zelebrierten ein Mahl samt Abwasch und teilten nicht, was sie bereitet hatten. Einfach skurril. Das war für mich das Geburtserlebnis zur feministischen Theologin.

Kirchenaktivistin

In der Familien Phase habe ich meine Kinder zur Erstkommunion und Firmung begleitet, war Mitglied der Synode 72 im Bistum St. Gallen und bei der gesamtschweizerischen Synode, nachher noch acht Jahre im Seelsorgerat, im Pfarreirat in der Frauengemeinschaft, in der Kinderliturgiegruppe. So wie ich die Kirche da erlebt habe, war sie für mich hoffnungsvoll und ich war überzeugt, dass bald ein Miteinander von Frauen und Männern möglich sein würde. Zu dieser Kirche wollte ich gehören. Ich absolvierte den Theologiekurs für Laien und das Seminar für Seelsorgehilfe und erhielt nach langer Ausbildungszeit das Diplom als Seelsorgehelferin (!).

Frauen – Kirchen Frau

In der Synode 72 wurde Margrit Schöbi meine Freundin, eine Frau «doppelt» so alt wie ich, die sich intensiv mit der Situation der Frauen in der Kirche befasst hat. An ihrer Seite bin ich zur Feministin geworden. Das war die Zeit, in der der Büchermarkt mit feministisch-theologischer Literatur überquoll. Wir habe viel gelesen und in verschiedenen Lesegruppen diskutiert. Die Theologie, die Situation der Frauen in Staat und Kirche waren im Umbruch und ungeduldig haben wir daran geglaubt, dass wir unseren Platz finden können. Aus den Frauengruppen ist das Ökumenische Forum Frau + Kirche entstanden, die Frauenkirche in St. Gallen-Appenzell. Das Engagement bei den Bildungsveranstaltungen, den Frauengottesdiensten und den Festen, die wir feierten hat begeistert. Da hatte ich meinen Platz, feministisch-theologisch aktiv zu sein. Ich war Seelsorgerin der Frauen die sich in der Kirche nicht mehr beheimatet fühlten. Als Forum Frau + Kirche haben wir uns in verschiedene kirchliche Gremien eingemischt, unsere Ansichten dargelegt und ich glaube, dass durch unsere Überzeugungskraft und Hartnäckigkeit das Bewusstsein, dass Frauen auch Kirche sind, gewachsen ist. In den 20 Jahren Forumsarbeit haben viele Frauen ihren eigenständigen Weg im Glauben gefunden. Zur Forumsarbeit gehörte dazu, dass ich während dreier Zyklen beim feministischen Theologiekurs in Boldern Co-Leiterin war mit Elisabeth Miescher, Gina Schibler, Reinhild Treitler und Doris Walser. Von der Gründung an bin ich in der IG feministischer Theologinnen und war auch Mitglied des Vorstandes. Diese intensive Zeit hat mich befähigt und ermutigt, über mein Christin sein selber nachzudenken und zu bestimmen.

Pfarreiarbeit

Nach der Familienzeit habe ich mich in der Pfarreiseelsorge anstellen lassen, zuerst in Appenzell Innerrhoden. Vielleicht ist es mir gelungen, im Kontakt mit den Menschen und in der Predigt zu zeigen, was Frauen können und ganz sachte die feministische Art über Gott zu reden eingeführt. Nachher hatte ich eine Anstellung, bei der die Seelsorge mit alten Menschen zu meinen Aufgaben gehörte. Als junge Frau habe ich als Hebamme Kinder ins Leben begleitet und nun konnte ich Menschen auf ihrem Weg aus dem Leben begleiten. Da wurde für mich die Fülle des Lebens erfahrbar.

Eine inspirierende Erfahrung war für mich die FRU (FrauenReligionsunterricht) Ein Dutzend Frauen haben in regelmässigen Treffen Religionsstunden vorbereitet mit dem Ziel, die Katechese aus Frauensicht zu gestalten. Unsere Treffen waren fruchtbare Streitgespräche.

Fazit

Die Pfarreiarbeit hat grosses Standvermögen gebraucht. Der Pfarreileitung und der Kirchenverwaltung war ich zu wenig devot, den Mitarbeiterinnen zu wenig brav. Ich bin in der katholischen Kirche geblieben. Ich bin da hineingewachsen; da sind meine Wurzeln. Nach der letzten grossen Auseinandersetzung habe ich mich jedoch aus der Kirchgemeinde abgemeldet, ich will die heutige Kirche nicht mit meinen Steuergeldern unterstützen.

Wissenschaftlich theologisch habe ich nicht gearbeitet, dafür mit Interesse verfolgt was vermittelt und geschrieben wurde und mich vom Denken der Theologinnen mitreissen und begeistern lassen. Es ist mein Wunsch, dass sich immer wieder Frauen von der christlichen Botschaft begeistern lassen und ihren Glauben in Gemeinschaften teilen. Dass Hand und Fuss bekommt – lebendig wird was in der Bibel über die Frauen berichtet wird.

Feierabend

In den letzten Jahren zwingt mich ein Rückenleiden zurückgezogen zu leben: -ich bin auf meine Art zur Einsiedlerin geworden und doch eingebettet in eine grosse Gemeinschaft von Frauen, mit denen ich unterwegs war und bin.

Zusammengefasst nach einem Fragenkatalog von Esther Fischer Gisler