Interview mit Carmen Jud
* 1955
Theologiestudium in Fribourg
1982-84 Fachmitarbeiterin für Theologie und Frauenfragen beim Schweizerischen Katholischen Frauenbund SKF, danach 20 Monate freischaffend und auf Stellensuche
1986-1992 Mitarbeiterin der cfd-Frauenstelle für Friedensarbeit
1992-2005 Geschäftsleiterin des cfd, des einzigen feministischen Hilfswerks in der Schweiz
2005 bis 2017 Beauftragte für Ökumene, Mission, Entwicklung und interreligiösen Dialog der Reformierten Kirche Kanton Luzern
Seit 40 Jahren lebe ich mit meinem Mann zusammen in Luzern. Wir haben bewusst keine Kinder. So hatte ich Zeit und Energie für meine unzähligen feministisch-theologischen Projekte.
Seit 2018 bin ich pensioniert und freue mich, mehr Zeit zu haben für Garten, Nähen, Kochen, Velofahren und Schwimmen. Ich bin engagierte Schlummermutter für studentische Untermieter:innen und begeisterte Gastgeberin für Airbnb-Gäste aus aller Welt.
1. Wie bist du im Verlaufe deines Lebens zur Feministischen Theologie gestossen und welche Protagonistinnen haben dich da geprägt?
Als Einzelkind in einer Familie mit starken Frauen aufgewachsen erfuhr ich keine Benachteiligung als Mädchen und wurde von meinen Eltern schon früh zum Studieren ermutigt. Hingegen stand ich aufgrund einer leichten Gehbehinderung oft am Rande und hörte immer wieder den Satz: Wer keine Beine hat, braucht einen guten Kopf. In der Jugendarbeit in unserem Dorf erlebte ich die Kirche als Frei- und Experimentierraum und als Ort der lustvollen Zusammenarbeit – auch im Widerstand gegen einen konservativen Pfarrer. So lag es nahe, Theologie zu studieren, nachdem mein langjähriger Traum, Missionsärztin zu werden, wegen meiner körperlichen Einschränkung platzte. Zudem wehte nach Konzil und Schweizer Synode ein frischer Wind durch die offenen Kirchenfenster. Der Beruf der Pastoralassistentin schien mir auch darum attraktiv, weil das Berufsbild noch völlig offen war und ich hoffte, Teilzeit arbeiten und somit Beruf und Familie vereinbaren zu können.
Während eines Praktikums 1978 in der kirchlichen Jugendarbeit nahm mich eine Kollegin mit zum ersten Vortrag über feministische Theologie an der Paulus-Akademie. Ich konnte nicht viel damit anfangen, nahm jedoch die Literaturliste mit. Ich begann zu lesen: Tina Halkes, Elisabeth Moltmann, Rosemary Radford-Ruether, Mary Daly, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Luise Schottroff und vor allem feministische Analysen (Schwarzer, Mitchell, Millett, Janssen-Jurreit, Friedan, Schenk, Haller) und Literatur von Frauen. Rasch fand ich mich in einer neuen faszinierenden Welt und schrieb bald darauf die erste feministisch-theologische Lizentiatsarbeit an der Uni Fribourg.
Vorbild, Beraterin, Mentorin wurden für mich vor allem zwei Frauen: Marga Bührig und Rosmarie Kurz. Als Christinnen, Feministinnen und Pazifistinnen engagierten sie sich leidenschaftlich für weltweite Gerechtigkeit und kämpften gegen Militarismus und Aufrüstung. Im cfd setzten sie sich für die Schaffung der Frauenstelle für Friedensarbeit ein, berieten die Frauenstelle-Mitarbeiterinnen in der Begleitgruppe und unterstützten mich in meinen Engagements.
Geprägt hat mich aber vor allem die intensive Zusammenarbeit mit Freundinnen und Kolleginnen – wir haben Projekte ausgeheckt, Themen gesetzt und diskutiert, um Positionen gerungen (z.B. in unserem Verhältnis zum Judentum, zur Göttin, zu Kirche/Politik/Religionen, zu Frauensolidarität, Waffenlieferungen, Frauenlisten, …), uns gestärkt und so im Reflektieren, Handeln und Feiern feministische Theologie und Friedenspolitik und uns selbst weiterentwickelt.
2. Wo warst du selbst tätig und hast Feministische Theologie mitentwickelt, auf die Welt gebracht und/oder weitervermittelt?
Ich hatte das grosse Glück fast 20 Jahre lang beim cfd Erwerbsarbeit und feministisch-(theologisches) Engagement verbinden zu können. Die ersten sechs Jahre bei der cfd-Frauenstelle für Friedensarbeit entwickelten wir feministische Friedenspolitik in steter Auseinandersetzung mit feministischer Theorie, Friedensforschung und feministischer Theologie und vor allem in enger Verbindung mit Projekten und Aktionen der Frauenbewegung und Frauenkirche-Bewegung: Frauen-Kirchen-Tage, unzählige Vorträge in der halben Deutschschweiz, Veranstaltungen und Studienwochen mit wichtigen Feministinnen, oft in Zusammenarbeit mit Brigit Keller von der Paulus-Akademie (Christina Thürmer-Rohr, Frigga Haugg, Audre Lorde, Elga Sorge, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Judith Stamm, Marga Bührig, Ruth Epting, Monika Stocker, …), 8. März-Veranstaltungen, Demonstrationen und Mahnwachen gegen Kriege, Solidaritätsaktionen mit den Frauen im ehemaligen Jugoslawien usw. usw.
1991 übernahm ich nach einer Finanzkrise die neu geschaffene Geschäftsleitungsstelle im cfd, hatte ich doch jahrelang gemeinsam mit anderen Frauen über Frauen und Macht reflektiert und wollte diese Konzepte nun erproben. Gemeinsam mit dem Vorstand und feministisch engagierten, hochkompetenten Mitarbeiterinnen entwickelten wir den cfd als feministisches Hilfswerk und Friedensorganisation.
Daneben war ich in verschiedenen Projekten engagiert: Mitgründerin und Redaktorin der FAMA, Mitarbeit im Verein Frauen und Kirche Luzern (später FrauenKirche Zentralschweiz, heute
fra-z), im Ökumenischen Forum christlicher Frauen in Europa, im Ausschuss der Frauenkonferenz des SEK, als Präsidentin der Gleichstellungskommission des Kantons Luzern, wo ich an den Grenzen institutionalisierter Gleichstellungspolitik litt, da diese eben nur den Kuchen neu verteilen kann, statt neue Kuchen zu backen oder die ganze Bäckerei zu übernehmen.
Stolz bin ich darauf, dass ich Geburtshelferin für die Schweizer FrauenKirchenFeste (ab 1995 Frauensynode) sein durfte. Das erste FrauenKirchenFest 1987 in Luzern war eine erste Selbstvergewisserung, dass wir suchenden Frauen viele sind – viele Verschiedene. Marga Bührigs Zuspruch «Wir Frauen sind Kirche, worauf warten wir noch» wurde zum Antrieb für die FrauenKirche-Bewegung. In den folgenden Festen zeigte sich das Wachsen der Bewegung in die feministisch-theologische Tiefe und Weite und dass die Bewegung für immer mehr Frauen religiöse Heimat wurde und Raum, um getragen von der Solidarität der «Gerechtigkeit suchenden FreundInnenschaft» (Mary Hunt) für spirituelle und soziale Selbstbestimmung und für kirchliche und politische Mitbestimmung zu kämpfen.
Unvergesslich ist für mich die Frauensynode 2007 in der Innerschweiz unter dem Motto «Arbeitstitel Heimat – eine Reise», für die ich die Projektleitung machen durfte. Auf der Schifffahrt von Flüelen nach Luzern, an 12 Stationen in der Stadt Luzern, bei der Feier und dem Fest in der Lukaskirche näherten wir uns dem an, was Heimat – spirituell, persönlich, politisch für uns bedeutet, und wie der Begriff Heimat Zugehörigkeit und Ausschluss begründet.
3./4. Welchen Stellenwert hatte feministisches Gedankengut innerhalb deiner Arbeit und wie floss feministische Theologie in deine Tätigkeiten ein? Welche Ansätze und Methoden sind dir besonders wichtig?
Ich hatte das Privileg, als Feministin beruflich feministisch arbeiten zu können. Im Zentrum stand nicht die Frage, ob feministisch, sondern mit welchen feministischen Ansätzen. Als Pendlerin zwischen feministischer Theologie und feministischer Friedenspolitik/Friedensarbeit lag mein Schwerpunkt vor allem auf den politisch-feministischen Zugängen, bei der Suche nach Möglichkeiten der Veränderung ungerechter sozialer Strukturen und nach Formen öffentlich-politischer Widerstandsarbeit. Zentral dabei war die Auseinandersetzung mit Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt insbesondere gegen Frauen und Minderheiten und den diesen zugrundeliegenden Denkmustern. Dabei war mir der feministisch-theologische Zugang immer sehr wichtig, vor allem Elisabeth Schüsslers Definition von «Patriarchat als eine männlich bestimmte, abgestufte Pyramide von Unterordnung und Ausbeutung, oder sozial-kulturell-politisches System von abgestuften Unterwerfungen und Beherrschungen.» Sie betrachtete Sexismus, Rassismus und militärischen Kolonialismus als die Tragpfeiler des Patriarchats. Diese Herangehensweise ermöglichte es, über den Frau-Mann-Gegensatz hinaus eine differenzierte Sicht auf die Verschränkung unterschiedlicher Formen und Kontexte von Gewalt und Unterdrückung zu gewinnen.
Sehr wichtig war uns der Ansatz der Mittäterschaft von Christina-Thürmer-Rohr. Ihre Analyse der komplexen geschlechtlichen Interessenverquickung zeigte auf, dass Frauen nicht einfach Opfer patriarchaler Strukturen sind, sondern eingebunden in einem System von Belohnungen und Beteiligungen ihren Beitrag zu deren Aufrechterhaltung leisten. Diese Herangehensweise lenkt den Blick auf die Frauen als Akteurinnen und eröffnet dadurch Handlungsmöglichkeiten.
In der cfd-Praxis orientierten wir uns am Konzept des Empowerment. Frauen sollen ermutigt und befähigt werden, die Bedingungen, unter denen sie leben, zu beeinflussen und zu gestalten. Das bedeutet, die realen Biografien der Frauen ernst zu nehmen, ihr Leben differenziert zu sehen, sie nicht nur als Opfer von Gewalt zu sehen sondern als Handelnde mit eigenen Ressourcen und Überlebensstrategien und sie darin zu stärken.
In der Zusammenarbeit mit Migrantinnen in der Schweiz wurde die Auseinandersetzung mit Differenzen unter Frauen zentral. Bei allem Empowerment und Bemühen um egalitäre Beziehungen bleibt ein ungleiches Machtverhältnis, das von allen Beteiligten Selbstreflexion und je andere Arten des Handelns erfordert.
Diese Erkenntnisse waren mir später auf der Luzerner OeME-Stelle in der interreligiösen Zusammenarbeit gerade auch unter Frauen sehr wichtig, und ich war froh, immer wieder Anregungen zu bekommen durch die Arbeit von Doris Strahm und den anderen Frauen des Interreligiösen Think-Tank.
5. Gab es Reaktionen aus deinem Umfeld auf deine feministische Theologie/Arbeit? Wenn ja, welche?
Eine sehr einschneidende Reaktion erlebte ich am Ende meines Studiums. Es war bereits abgemacht, dass ich in der St. Galler Pfarrei Halden, beim Pfarrblatt und als Religionslehrerin an der Kanti eine Teilzeitstelle antreten würde, daneben wollte ich mich im Frauenhaus engagieren. Dann kam das Nein der Bistumsleitung mit der Begründung, dass sich mein Engagement für Frauen, die aus einer Ehe ausbrechen, nicht vertrage mit der Arbeit in der Kirche. Ich war geschockt über dieses Denkmuster, wonach Solidarität mit von Gewalt betroffenen Frauen und Solidarität mit der Kirche nicht vereinbar seien, und beschloss, dass ich in dieser Kirche nicht arbeiten wollte.
Rasch fand ich meine erste Stelle beim Schweizerischen Katholischen Frauenbund. Die scheidende Präsidentin Annemarie Höchli–Zen Ruffinen hoffte, durch die Anstellung einer feministischen Theologin, feministische und feministisch-theologische Positionen im SKF stärker verankern zu können. Bei feministisch-theologischen Vorhaben war die erste Reaktion meist, «die Frauen an der Basis sind noch nicht so weit». Mit einigen Abstrichen realisierten wir sie dann meist doch. Wirklich angeeckt habe ich jedoch bei gesellschaftspolitischen Fragen: Abtreibung und Fristenregelung, Einbezug der Frauen in die Gesamtverteidigung, Familienpolitik. Nach 2 ½ Jahren ging es nicht mehr.
Eine dritte, heftige Reaktion löste die Entscheidung aus, den cfd als feministisches Hilfswerk zu positionieren, hauptsächlich Frauenprojekte zu unterstützen, ein Frauenteam zu bilden und eine Männerquote von 30% für den Vorstand einzuführen. Ich war wochenlang damit beschäftigt, Briefe vor allem von Kirchenvertreter:innen zu beantworten und zu betonen, dass der cfd sich nach wie vor in der christlichen Tradition verorte und mit einem feministisch-befreiungstheologischen Ansatz arbeite.
Insgesamt aber überwogen die positiven Echos. Ich freute mich immer wieder, wenn meine/unsere Arbeit Frauen dazu anstiftete, genau hinzusehen, patriarchale Deutungsmuster zu durchschauen und aus befreienden Impulsen Kraft für die Arbeit an gerechten Beziehungen zu schöpfen.
6. Wie schätzt du die gegenwärtige Situation von Frauen in Kirche, Gesellschaft etc. ein? Was wünschst du dir für die Zukunft der Frauen?
Da bin ich sehr unsicher. Einerseits haben wir viel erreicht. Frauen sind sichtbar, ihre Präsenz in kirchlichen, wirtschaftlichen, politischen Positionen ist selbstverständlich(er) geworden und hat diese teilweise auch verändert. Es gibt viele Wahlmöglichkeiten für Mädchen und Frauen.
Andererseits nehmen die Angriffe auf die Rechte von Frauen und Minderheiten weltweit zu. Die Ungleichverteilung von Ressourcen verschärft sich, die Klimakrise bedroht die Zukunft der kommenden Generationen. Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Interessen und zur Bewältigung von Konflikten ist wieder selbstverständlich. Und ich weiss nicht, was wir dem entgegenzusetzen haben.
Meine grosse Vision des guten Lebens für alle Menschen aber lebt weiter, und ich teile sie mit vielen engagierten Frauen und Männern.
7. Wie bekommen für dich deine Überzeugungen nach wie vor Hand und Fuss?
Nach der Pensionierung 2018, führte ich die wichtigsten Projekte in der interreligiösen Zusammenarbeit und im Migrationsbereich noch fast 2 Jahre weiter, da die Nachfolge sich verzögerte. Ich wollte mir zunächst Zeit lassen für die Entscheidung für neue Engagements. Dann kam Corona und Möglichkeiten und Bewegungsräume schrumpften, angedachte Projekte lagen auf Eis. Es fehlten Begegnungen, Berührungen, unmittelbare Erfahrungen.
Ich begann, zuhause Migrant:innen im Tandem in Deutsch zu unterrichten und unterstütze sie bei Stellen- oder Wohnungssuche, Kontakten mit Ämtern usw. Ich sehe das auch als Möglichkeit/Aufgabe, meine Privilegien mindestens ein bisschen zu teilen – und zwar etwas konkreter als mit Spendeneinzahlungsscheinen und den Stimm- und Wahlzetteln.
Im Beirat der fra-z versuche ich, die Brücke zu schlagen zwischen der «alten» FrauenKirche-Bewegung und den Reflexionen und Aktionsformen der jungen Frauen, und vielleicht entsteht daraus irgendwann ein Generationenprojekt – falls wir genügend Zeit und Freiraum haben, über die gegenseitige Neugier hinaus Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten, sorgfältig damit umzugehen und eine stimmige Aktionsform zu entwickeln.
Und dann haben wir ein Vor-Corona-Projekt «aufgetaut»: Ab Ende April möchten wir vier Frauen (Li Hangartner, Beata Pedrazzini, Silvia Strahm Bernet und ich) im Friedhof Friedental an drei Nachmittagen pro Woche das «Café unter der Linde» eröffnen als niederschwelliger, barrierefreier Ort der Begegnung und des gemeinsamen Gesprächs. Inzwischen leicht nervös warten wir auf die Bewilligungen der Stadt, denn es ist noch viel zu tun.
«Mein Herz ist berührt von allem, das ich nicht retten kann: so viel ist zerstört worden. Ich muss mein Los mit jenen teilen, die Jahrtausend um Jahrtausend, störrisch und nicht begabt mit besonderer Kraft, die Welt wiederherstellen.» Diese Worte von Adrienne Rich helfen mir derzeit dabei, nicht zu verzweifeln – am Krieg, an der Zunahme von Gewalt, an populistischen Angriffen auf Demokratie und Menschen- und Frauenrechte, an …
Vielen Dank für das spannende Interview!
Esther Gisler Fischer.