Frau des Monats September/Oktober 2022

Interview mit Angela Wäffler-Boveland

1957 in Hamburg (D) geboren, dort auch Abitur und Studium der Theologie bis zum Propädeutikum
1979 für 2 Semester nach Zürich und wegen der Liebe geblieben; 2 Töchter (1983 und 1985), 2 Enkelkinder; seit 2014 verwitwet
1987 Ordination und ehelich geteiltes Pfarramt – zunächst nur mit Vertrag, ohne eigene Anstellung
1994 offizielle Stellen-Teilung (mit finanziellen Einbussen); Schwerpunkt Bildung: Krabbel-gottesdienste, Schule, Konf, AGEB, Frauen, Eltern, Schicksalsgruppen (verwaiste Eltern)
SVEB Fachausweis und DAS Ausbildungsleitung
2001 ‚Deutschschweizer Projekte Erwachsenenbildung‘: jetzt ‚Fokus Theologie‘ und
Evangelischer Theologiekurs zu Bibel & Theologie

 

1. Wie bist du im Verlaufe deines Lebens zur Feministischen Theologie gestossen und welche Protagonistinnen haben dich da geprägt?

Ich hatte das grosse Privileg, in eine Familie geboren zu werden, in der gebildete, gleichberechtigte, selbstbewusste Frauen bereits eine längere Tradition hatten, auch wenn sie in der Regel nicht berufstätig, sondern ehrenamtlich engagiert waren. Ein aufgeklärtes und zugleich frommes Christsein, sowie eine Erziehung auf Augenhöhe mit Ansätzen der antiautoritären Didaktik liessen mich zu einer eigenständigen Frau werden, die sich nicht scheute, sich eine eigene Meinung zu bilden – und auch dazu zu stehen.

Ich muss ungefähr vierjährig gewesen sein, als ich nach dem Abendgebet: «Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm’» die Frage stellte: «Was soll ich denn im Himmel? Da kenne ich doch keinen.» Woraufhin meine Eltern das Gebet kurzerhand durch das UnserVater ersetzten, in das ich seither mit meinen Geschwistern zusammen hineinwachsen konnte. In diesem Klima drängten sich feministische Fragen nicht auf – auch nicht, als mein Jahrgang erst im zweiten Schuljahr koedukativ in einem Jungengymnasium auch Mädchen willkommen hiess: das entsprach unserem Lebensgeist.

Voller Begeisterung fing ich an, Theologie zu studieren. Besonders die exegetischen Fächer inspirierten mich (das ist bis heute so geblieben): die akribisch genauen Beobachtungen am Text und die historische und literarische Kontextualisierung eröffneten mir Horizonte. Schon  damals wuchs in mir der Verdacht, dass die damals übliche Quellenscheidung jeweils zu sehr interessengeleiteten Ergebnissen führte. Meine Skepsis gegenüber den wissenschaftlichen Erkenntnissen wuchs. Ich hörte Vorlesungen von Dorothee Sölle und obwohl sie mir zu aggressiv-kämpferisch war, habe ich bei ihr begriffen, wie privilegiert meine Erfahrungen waren und wie wichtig die Solidarität mit Frauen aus anderen Hintergründen ist.

In der ersten Kirchgemeinde Anfang der 80ger Jahre war ich noch Pfarrfrau, engagierte mich jedoch bereits in der Frauen- und Familienbildung. Gemeinsam entdeckten wir die biblischen Frauengestalten als Identifikationsfiguren, fragten uns, wie europatauglich die Theologie der Befreiung sein könne und ich fand erste weibliche Seiten Gottes bei Jesaja. Trotzdem war ich im ersten Moment empört, als 1983 das Buch: «Zu ihrem Gedächtnis» von Elisabeth Schüssler Fiorenza erschien: bevor ich zu lesen anfing, erinnerte mich der Titel (sicher beabsichtigter Weise!) an die Mahl-Liturgie und das fand ich doch irritierend stossend. Welche Erleuchtung, den Titel als Zitat aus Mt 26,13 zu entdecken! Das war wohl der Moment, an dem ich zur feministischen Theologie kam. Mehr und mehr entdeckte ich, dass vielmehr als die Bibel die Auslegungstraditionen hierarchisch, patriarchal und Frauen unsichtbar machend war und wie stark wirkungsgeschichtlich unser Blick geprägt ist. Weil die Bibel eine Geschichte der Befreiung enthält, wollte ich den Bibeltext gegen die Auslegungsirrtümer stark machen: selbst Psalmen sind Befreiungstexte, wenn frau genauer hinschaut.

Dann begegnete ich Eva Renate Schmidt; Ina Praetorius wurde meine Mentorin während des Staatsexamens, die feministische Sicht wurde mir aus hermeneutischer Perspektive immer wichtiger und ich begann, für Predigten und Frauen-Bibelkurse die biblischen Texte neu zu übersetzen und nach einer gender-adäquaten Sprache zu suchen. An der Disputation ’84 traf ich viele Frauen, die zum Teil schon viel länger ähnlich oder ganz anders unterwegs waren. Damals entwickelte sich die Überzeugung, die Zürcher Bibel sei revisionsbedürftig.

2. Wo warst du selbst tätig und hast Feministische Theologie mitentwickelt, auf die Welt gebracht und/oder weitervermittelt?

Als 1996 der Vorabdruck zur neuen Zürcher Bibel mit Psalmen und Evangelien erschien, ging ein Aufschrei der Enttäuschung nicht nur durch die Reihen der theologisch interessierten Frauen, weil kaum ein Anliegen der Frauen berücksichtigt worden war. 1998 wurde eine Lesegruppe eingesetzt «zur Vermeidung übersetzungsbedingter Diskriminierungen». Das war mein Thema; ich bewarb mich und konnte mit Katharina Schmocker, Ursula Sigg und Esther Straub an die Arbeit gehen. Wir überprüften nur die Entwürfe zum Neuen Testament. Von unseren Vorschlägen, die weit über die «Herrenfrage» hinausgingen, wurde kaum etwas übernommen, doch konnten wir unsere Anliegen im tvz-Büchlein ‘«…und ihr werdet mir Söhne und Töchter sein.» Die neue Zürcher Bibel feministisch gelesen’ publizieren. Für mich persönlich war das ein Glücksfall, denn Vieles sahen wir ähnlich wie die zeitnah erschienene Bibel in gerechter Sprache und wir konnten nun die wesentlichen Alternativ-Vorschläge erklären und so für Verständnis werben.

Ab 2001 war ich bei den wtb-Projekten (heute «Fokus Theologie») für das Konzept «Evangelischer Theologiekurs ETK» verantwortlich und entschied mich rasch dafür, feministische Theologie nicht als Sonderfall zu behandeln, sondern unausgesprochen möglichst überall einfliessen zu lassen – manches Mal offensichtlicher, meistens jedoch über hermeneutische und exegetische Beobachtungen. «Feministisch» sollte im ETK nicht zum Reizwort werden, sondern den Blick öffnen für weibliche Perspektiven.

Dabei habe ich viel von Klara Butting und ihrer biblischen Spiritualität gelernt; ebenso wichtig wurde mir allerdings, dass theologische Forschung nicht nur auf Expert:innen-Wissen beruht, sondern die Beobachtungen aller Lesenden würdigt, wertschätzt und weiterdenkt.

So entstand um 2011 der Lehrgang «Theologie kompakt», der sich als Kompetenz-Erweiterung und weniger als Wissensvermittlung verstand: die Teilnehmenden sollten sich einfache Methoden des Textverstehens aneignen – und ich habe in jedem Durchgang gestaunt, wieviel die Teilnehmenden entdeckten, wo sie sich auf einen Text einliessen!

3. Welchen Stellenwert hatte feministisches Gedankengut innerhalb deiner Arbeit und wie floss feministische Theologie in deine Tätigkeiten ein?

Dass die Rede von der «Barmherzigkeit Gottes» die weibliche Seite Gottes betont, war eine kleine Offenbarung für mich: Barmherzigkeit beschreibt ein Gefühl, das das Leben Anderer über die eigenen Interessen, über Gerechtigkeitssinn oder Zorn stellt. Der Sitz dieser Barmherzigkeit (hebr. rachamim) ist die Gebärmutter (rächäm; dieselbe Wortwurzel). Wie präsent diese Rede von Gott ist, und wie sehr das Bewusstsein für die Weiblichkeit dieses Bildes den Blick auf das Göttliche ändern kann, braucht in dem Sinne keine feministische Begründung, sondern kann (unverdächtig) als philologische, exegetische oder hermeneutische Beobachtung präsentiert werden.

Ich habe in allen Kursen um der Sache willen eher vermieden, als «Feministin» aufzutreten: es ist doch viel wirkungsvoller, wenn die Erkenntnisse jenseits von ideologischen Gräben gewonnen werden können. Doch die feministische Perspektive schwingt immer mit.

4. Welche Ansätze und Methoden sind dir besonders wichtig?

Ich verstehe mich als Grenzgängerin zwischen frommer Spiritualität (geprägt von Herrnhuter Gemeinde und russisch-orthodoxer Liturgie) und rationaler Exegese und Hermeneutik. Beides miteinander zu verbinden, ist für mich lebenslange Arbeit – und dies auch den Teilnehmenden zu ermöglichen, ist mir ein wichtiges Anliegen. Deshalb betone ich immer wieder, dass in meinen Veranstaltungen niemandem die bisherigen Glaubensüberzeugungen genommen werden sollen – vielmehr werden sie angereichert, geprüft und weiterentwickelt. Ich könnte das auch «eine Hermeneutik des Vertrauens» nennen, eine vertrauensvolle Erwartung, dass Gott auf der Seite der Armen parteilich ist, dass Bibel in unsere Zeit etwas zu sagen hat, dass Auferstehung meinem Alltag Hoffnung gibt und die Beziehung zu Gott dauerhaft und zuverlässig ist …

Kreative didaktische Methoden können helfen, die Sinne abseits der eingefahrenen Denkgewohnheiten zu öffnen und zusätzlichen Sinn zu entdecken – doch wohin sich solch ein Prozess für die einzelne Person entwickelt, ist ergebnisoffen.

Meine Aufgabe sehe ich dabei einerseits als Moderatorin, die öffnende, inspirierende Fragen stellt und andererseits als Fachfrau, die kontextuelle Hintergrundinformationen vermitteln kann.

Der Bezug zur weltweiten Kirche, wie ich sie in Bossey kennengelernt habe, und hoffentlich in Karlsruhe wieder finde, ist eine wichtige Inspirationsquelle für mich, gerade auch in den feministischen Herausforderungen.

5. Gab es Reaktionen aus deinem Umfeld auf deine feministische Theologie/Arbeit? Wenn ja, welche?

Es überrascht nach dem oben Beschriebenen vielleicht nicht so sehr, dass meine stille, eher subversive feministische Art selten zu heftigen Reaktionen geführt hat. Am meisten Gegenwind habe ich in den 80ger Jahren aus den Frauenreihen gespürt, die mir vorwarfen, keine richtige Feministin zu sein und viel zu männlich zu denken. Andererseits konnte ich in früheren Jahren auch erstaunt gefragt werden: «ich habe dich mit einem Mann gesehen – bist du gar nicht lesbisch, wenn du doch eine Feministin bist?» Heute ist solch eine Frage Gottseidank kaum mehr vorstellbar…

Am meisten gefreut hat mich, als eine Person aus dem Übersetzungskreis zur Zürcher Bibel mir Jahre später sagte: «Unterdessen habe ich begriffen, was ihr damals gemeint und gewollt habt!» Und trotzdem habe ich den  Eindruck, dass sich seither gar nicht so viel geändert hat: die Wirkungsgeschichte sitzt in unseren Köpfen sehr fest!

6. Wie schätzt du die gegenwärtige Situation von Frauen in Kirche, Gesellschaft etc. ein? Was wünschst du dir für die Zukunft der Frauen?

Ich tue mich mit der Antwort auf diese schwierigste Frage schwer. Einerseits: wo soll ich anfangen? Es gibt so viele lose Fäden, dass sie hier unmöglich alle genannt werden können! Andererseits: es ist in den vergangenen Jahren viel in Bewegung gekommen und mit manchem tue auch ich mich – bei aller Offenheit – auch ziemlich schwer.

– Teilzeitstellen zwingen zu einer sorgfältigen Abgrenzung zwischen Beruf und Privatleben; für mich war «Pfarrhaus» zu Beginn noch ein Lebensentwurf und Pfarramt – trotz Teilzeitpensum – eine Identitätsfrage. Manchmal frage ich mich, ob das nicht auch Vorteile hatte? Ich fühlte mich als Pfarrerin, Pfarrfrau und Freiwillige auf verschiedenen Lebensebenen als ganze Person angesprochen; das Pfarrhaus war ein offener Ort im physischen wie sozialen Sinn, da trafen sich Gruppen in unserem Wohnzimmer zur «geistlichen Teilete», während oben die Töchter schliefen, da gab es «Pfarrgeheimnisse», in die schon die Kinder eingebunden wurden, da wurde zum Mahl im Namen Jesu das Brot früh am Sonntagmorgen gebacken – und natürlich gab es aus dem selben Teig auch noch Sonntagsbrötchen. Diese Einheit des Lebens hätte ich nicht missen wollen, obwohl ich nur ein 50%-Pensum hatte.

– Kirchliche Schlüsselpositionen werden vermehrt wieder in Männerhand gegeben; fast immer mit der Begründung der besseren Qualifikation. Wie kann das sein? Ich frage mich, ob wir Frauen weniger selbstbewusst Herausforderungen annehmen und bei verwaltungsaufwändigen Kaderpositionen eher zurückhaltend sind. Wir investieren vielleicht auch weniger Weiterbildungszeit in entsprechende Kompetenzen und halten uns eher an inhaltliche, seelsorgerliche Kompetenzen – und noch immer scheinen Familienaufgaben Frauensache und Gelderwerb Männersache zu sein: «Er muss auch eine Familie ernähren». Doch dahinter steckt auch die Einschätzung, hartnäckige Frauen seien aufsässig und nicht teamfähig, undiplomatisch und deshalb ungeeignet. Ich selbst hätte solch eine Kaderposition übrigens auch nie gewollt: zuviel Admi, Politik und Kalkül…

– So kommt es, dass Frauen noch immer zu wenig Vorbilder dafür haben, wie sie anders führen könnten. Wagen sie es doch, Kaderfunktionen zu übernehmen, müssen sie sich den Gepflogenheiten anpassen.

– Zur Zeit entsteht ein neues Bewusstsein für die eigene Individualität, jenseits von Genderzuschreibungen und Eindeutigkeiten. Das ermöglicht hoffentlich immer mehr Menschen, in ihrer Haut und ihrem Leben zuhause zu sein. Doch wo die Diversität gesellschaftlich eingefordert wird, entstehen aus meiner Sicht wieder Normverhalten und Klischees. Mir kommt ein Erlebnis in den Sinn: ich war etwa 15 und besuchte meine viel ältere Cousine in Stockholm. Ihre älteste Tochter hatte gerade die erste Klasse beendet und ich durfte mit an das Schuljahrs-Ende-Fest. Aufgeregt zeigt das Kind mir alles und jubelte plötzlich: «und da hinten, das Kind mit der hellblauen Schleife im Haar: das ist meine beste Freundin!» Und fort war sie. Ich stand geradezu andächtig: das Kind mit der hellblauen Schleife war weit und breit das einzig «colored girl». Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der dieser Umgang miteinander für alle Diversitäten üblich ist. Das braucht auch das entsprechende Selbstgefühl jeder einzelnen Person.

7. Wie bekommen für dich deine Überzeugungen nach wie vor Hand und Fuss?

Ich lasse mich noch immer und immer wieder neu von Texten überraschen: wenn ich genau hinschaue, entdecke ich jedes Mal etwas, das bisher unbemerkt geblieben ist – im Moment etwa, wie häufig in neutestamentlichen Perikopen unvermittelt die Zeit ins Präsens wechseln kann… oder wie die Erzählung vom Vater mit den zwei Söhnen eigentlich ein Midrasch zu Psalm 8 ist – oder die für mich noch sehr irritierende Beobachtungen, dass Gottes weibliche Seiten sich fast ausschliesslich auf Säuglinge und Kleinkinder beziehen, während die väterlichen Seiten Gottes es fast immer mit erwachsenen, mündigen Erb:innen zu tun haben: was bedeutet das für menschliches Selbstbewusstsein und unsere Gottesbeziehungen?

Je länger je mehr bin ich überzeugt, dass die Bibel kein Buch für das stille Kämmerchen ist. Sie will gemeinsam gelesen, bedacht und besprochen werden, um ihr Befreiungspotential entfalten zu können. Wo Menschen sich gemeinsam mit anderen Menschen intensiv mit ihr beschäftigt haben, mag diese Beschäftigung später allenfalls nachklingen, wenn die Zeit dafür da ist. Doch Bildung – auch theologische Bildung! – ist grundsätzlich ein kollegialer Prozess, indem wir gegenseitig voneinander lernen, gemeinsam bestehende, interessegeleitete Deutungsmuster entlarven, hinterfragen und durch neue, reflektierte Interpretationen erweitern – die ebenfalls kontextuell geprägt und interessegeleitet sind und gerade dadurch die vertrauten Auslegungen ergänzen. Dabei wird eine Vielfalt erlebbar, die keine unité de doctrine verlangt und gerade deshalb die Bibel lebendig hält.

Ich habe mir abgewöhnt, mir erst eine Meinung zu bilden und dann den passenden Bibeltext dazu zu suchen – inzwischen finde ich diese Vergehensweise übergriffig und instrumentalisierend. Stattdessen begegnet mir ein Text aus Bibel und Theologie von dem ich mich inspirieren lassen. Was er mir zu sagen hat, wird mich wohl verblüffen, bewegen und herausfordern, ihn «zu behalten und im Herzen zu bewegen.» (Lk 2,19)

Danke für deine Antworten!
Das Interview wurde schriftlich von Esther Gisler Fischer geführt.

Und hier noch ein Hörbeitrag mit Angela Wäffler-Boveland:
https://fokustheologieref.ch/fileadmin/extern/Fluessige_Zeiten_zwischen_Aufhoeren_und_Anfangen.mp3