Frau des Monats März/April 2022

Interview mit der Frau des Monats Regula Strobel

*1956, Theologin, katholisch sozialisiert, schon länger kirchenfern und seit 2018 auch ausgetreten, nachdem das Berufsverbot schon seit 2003 existierte.
Theologische Praxis und Reflexion/Theorie zusammenzuhalten, war mir immer ein Anliegen: deshalb das berufliche Hin- und Herpendeln von Pfarreiarbeit, Assistentin an der Uni, Pfarreiarbeit, Erwachsenenbildung/Frauenarbeit.
2003 Wechsel in die staatliche Verwaltungshierarchie: Aufbau der Fachstelle gegen Gewalt beim Eidg. Gleichstellungsbüro und danach Leitung der Fachstelle Familie und Gleichstellung im Kanton AG.
2010 Übernahme, Leitung und Betrieb eines kleinen bis mittleren Gastrobetrieb (Hotel und Restaurant) im Kanton Graubünden.
Seit 2019 wieder in Freiburg lebend, zusammen mit meinem langjährigen Partner

  1. Wie bist du im Verlaufe deines Lebens zur Feministischen Theologie gestossen und welche Protagonistinnen haben dich da geprägt?

Kritische Fragen zu theologischen Lehren soll ich meiner Mutter schon im Kindergartenalter gestellt haben – aber vor allem hat mich die Grundhaltung im Elternhaus geprägt, dass Mädchen und Jungen dieselben Rechte und Pflichten hatten.
Kaum begann ich 1976 das Theologiestudium, veröffentlichte der Vatikan sein Schreiben gegen das Frauenpriestertum. Wir waren sechs Frauen in unserem Jahrgang (25%), haben dieses Schreiben mit unseren Kollegen und den Professoren eingehend diskutiert und uns – ohne es zu wissen – schon in feministisch-theologischer Argumentation geübt. Obwohl ich damals kein Interesse hatte, Priesterfunktionen zu leben (die waren mir zu sehr auf die Liturgie beschränkt), hat das päpstliche Schreiben und vor allem seine hanebücherne Argumentation meinen Widerspruch und den meiner Studienkolleginnen angestachelt.
Im ganzen Theologiestudium erhielten wir, soweit ich mich erinnere, keinen Hinweis auf feministisch-theologische Literatur. Zwar hatte Mary Daly ihre ersten zwei Bücher (Kirche und das andere Geschlecht 1968; Jenseits von Gott Vater, Sohn & Co 1973) schon in Englisch veröffentlicht, aber gelesen habe ich sie erst später. Geprägt hat mich neben Carter Heyward, Luise Schottroff und verschiedenen Afro-Amerikanische Theologinnen, vor allem Elisabeth Schüssler Fiorenza mit ihrer Hermeneutik. Diese Hermeneutik gab mir das wissenschaftliche Instrument in die Hand, nicht nur biblische Texte und kirchliche Verlautbarungen gegen den Strich zu bürsten und das Verborgene aufzudecken, sondern ebenso politische Darstellungen, Positionen und die gemachte Normalität, in der wir leben.

  1. Wo warst du selbst tätig und hast Feministische Theologie mitentwickelt, auf die Welt gebracht und/oder weitervermittelt?

Der Anfang war die FrauenWeb- und DenkWerkstatt – eine lose Diskussionsgruppe von Theologinnen aus Luzern und Freiburg, die dann auch ein Bulletin veröffentlichte, als Anregung für weitere Diskussionen. Das Interesse daran wurde grösser und 1984 entschieden wir uns, die FAMA gedruckt zu veröffentlichen. Die Redaktionssitzungen mit ihren intensiven Diskussionen waren für uns alle auch Weiterbildungen! Viele der Mitgründerinnen der FAMA wurden dann wie ich von Frauengruppen an verschiedenen Orten zu Vorträgen eingeladen. Mit Doris Strahm ab Herbst 1987 und ich ab Frühling 1988 haben wir zusammen Seminare zu feministisch-theologischen Themen an der Uni Freiburg gestaltet, Seminar- und Lizentiatsarbeiten begleitet, ein Buchprojekt konzipiert, verschiedene Artikel geschrieben. Mit den Seminaren erreichten wir viele Studierende, nicht nur der Theologie. Ebenso mit meinem feministisch-theologischen Lehrauftrag in Bern. Wichtig in dieser Zeit waren auch die Weiterbildungsveranstaltungen für Theologinnen und Theologen in der Schweiz, Deutschland und Österreich, die Referate an grossen Veranstaltungen, Kirchentagen usw. Die Vernetzungsarbeit in der ESWTR (Europäische Gesellschaft von Frauen in der theologischen Forschung), die jahrelange Mitarbeit in deren Vorstand und die Vorbereitung der Europäischen Konferenz auf Kreta waren immer spannend und intensiv.
In der Pfarreiarbeit, als Leiterin der Frauenstelle der katholischen Gesamtkirchgemeinde in Biel, als Vorstandsfrau der Frauenkirche Bern und im Wort zum Sonntag im Schweizer Fernsehen war die feministische Theologie natürlich immer präsent, explizit und implizit!

  1. Welchen Stellenwert hatte feministisches Gedankengut innerhalb deiner Arbeit und wie floss feministische Theologie in deine Tätigkeiten ein?

Einmal den feministisch-theologischen Blick entwickelt, geht er nicht mehr weg. Je nach Kontext, kam dieser Blickwinkel explizit oder implizit zum Zuge. Explizit, dort wo ich für feministisch-theologische Vorträge, Weiterbildungen, Artikel usw. angefragt wurde. Eher implizit überall dort, wo Feministische Theologie nicht als Thema gefragt war, also z.B. in Predigten oder verschiedenen anderen Bereichen der Pfarreiarbeit. Da gings ums Wahrnehmen von Frauen, hinhören auf sie und sie stärken und stützen, damit sie sich äussern und eintreten für das, was ihnen wichtig war. Beim Predigen habe ich bewusst abgewechselt zwischen «männlicher» und «weiblicher» Sprache, habe für Beispiele aus dem Leben Frauen in «Männerbereichen» situiert und umgekehrt. Im Aufnehmen von biblischen Texten habe ich immer die Lebensrealitäten von Frauen, die sie abbilden oder verstecken, thematisiert und beim Namen genannt, auch wenn es sich um übergriffige oder gewalttätige handelte. Ebenso habe ich eine Vielfalt von Gottesbildern verwendet.

  1. Welche Ansätze und Methoden sind dir besonders wichtig?

An meiner ersten Arbeitsstelle in der Pfarrei Birsfelden bin ich mit Lebensrealitäten von Frauen in Kontakt gekommen, die mein theologisches Denken herausgefordert und geprägt haben: Gewalt, auch sexuelle, gegen Frauen und Mädchen innerhalb der Familie. Damals gab es noch keine Frauenhäuser und Opferhilfestellen. Anlaufstellen für Gespräche waren häufig die Seelsorger vor Ort, Frauen gab es in den Pfarreien noch sehr wenige.
In Gesprächen mit Frauen habe ich sie in der Überzeugung gestützt, dass psychische und physische Gewalt in Partnerschaften und gegen Kinder nichts zu suchen haben. Gemeinsam haben wir kleine Veränderungsmöglichkeiten ausgelotet, wie Frauen sich und/oder ihre Kinder schützen können, dass sie Stopp sagen dürfen (Liebe hat nicht alles zu ertragen), wem sie telefonieren können, wenn die Situation eskaliert usw. Am Schluss des Gesprächs wurden die Hoffnungsfunken wieder zum Erlöschen gebracht mit dem Seufzer der Frauen: «Ja jeder hat halt sein Kreuz zutragen!»
Dies hat mich dazu gebracht, die theologischen Interpretationen der Kreuzigung Jesu genauer anzuschauen und grundsätzlich zu hinterfragen. Nicht nur die traditionelle Opfertheologie, auch was in befreiungstheologischen Ansätzen mit Hingabe und konsequentem Engagement Jesu interpretiert wird. Überall wird die bewusste Gewaltausübung der Herrschenden theologisch vertuscht, das Handeln der Herrschenden als ‘normal’ dargestellt: es ist halt so! Die Entscheidung der Herrschenden wird nicht hinterfragt, sie werden nicht zur Rechenschaft gezogen.
Das ist nichts anderes als Victimblaming! Du bist selbst schuld: wenn du gegen Ungerechtigkeit aufstehst, musst du die Gewalt der Herrschenden in Kauf nehmen. NEIN! Ebensowenig wie junge Frauen im Minirock selbst schuld sind, wenn Männer sich an ihnen vergreifen! Oder Frauen in Partnerschaften eigene und andere Meinungen als ihre Männer haben dürfen, ohne deswegen von den Männern abgekanzelt oder mit physischer Gewalt bestraft zu werden. Frauen haben auch das Recht, sich von ihren Männern trennen, ohne deswegen von ihnen getötet zu werden!
Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang der Ansatz bei einem Menschenbild, das Menschen, Frauen und Männer, wirklich als ‘Bild Gottes’ in dieser Welt versteht. Nicht als Kontrahent Gottes, der oder die nur unter Überwindung des inneren Schweinehundes menschenfreundlich handeln kann. Menschen müssen keine kleineren oder grösseren Opfer bringen, um das, was die biblischen Gleichnisse «Reich Gottes» nennen, zu unterstützen. «Reich Gottes» hier in unserer Welt zu realisieren, ist ein zutiefst menschliches und menschen-mögliches Projekt, dem menschlichen Handeln, Wünschen inhärent.
Indem auch fortschrittliche und kritische TheologInnen ein Menschenbild portieren, das Ausbeutung und Gewalt als ‘normales’ menschliches Handeln akzeptiert, bleiben die Herrschaftsverhältnisse unangetastet

Die für mich wichtigste und hilfreichste Methode, diese faktische Normalität als von Herrschenden gemachte Normalität zu hinterfragen, ist die Hermeneutik von Elisabeth Schüssler Fiorenza. Diese hat mir systematisch ermöglicht, Texte und Realitäten in Kirche, Theologie und Gesellschaft konsequent zu entlarven, die herrschenden Interessen aufzudecken und als ab-normal zu erkennen. Und auch jene Lebensgeschichten wahrzunehmen, die unter den Rädern dieser gemachten ‘Normalitäten’ zerstört werden.

  1. Gab es Reaktionen aus deinem Umfeld auf deine feministische Theologie/Arbeit? Wenn ja, welche?

Es gab viele und sehr verschiedene Reaktionen auf meine feministisch-theologische Arbeit.
Frauen (und Männer) an der Basis reagierten allermeist sehr positiv und befreit auf meine Kritik der theologischen Interpretationen der Kreuzigung Jesu. Frauen aus den Pfarreien stuften mein implizites feministisch-theologisches Reden und Handeln häufig nicht als feministisch ein (wobei sie feministisch mit männerfeindlich gleichsetzten!).
Auch an den Universitäten waren die Reaktionen der Studierenden positiv, einigen tat sich (nach eigener Aussage) eine neue Welt auf. Brot statt Steine (Elisabeth Schüssler Fiorenza) zu Tage zu fördern, in biblischen Texten, kirchlichen Überlieferungen und Traditionen zu unterscheiden, hat manche ermutigt.
Anders waren die Reaktionen seitens der Hierarchien: Die Kritik an den theologischen Interpretationen der Kreuzigung war zu grundsätzlich/radikal, um als Dissertationsprojekt akzeptiert zu werden, weder vom Professor für Dogmatik in Freiburg noch jenem in Nijmegen.
Und ein Artikel zum Thema Opfertheologie, der von der NZZ für die Kulturseite der Karfreitagsnummer 1999 angefragt wurde, hat dazu geführt, dass der damalige Bischof des Bistums Basel, Kurt Koch, mir keine Missio mehr erteilt hat, was gleichbedeutend mit einem Berufsausübungsverbot ist.
Der gleiche Artikel hat auch die reformierte Fakultät Zürich auf den Plan gerufen: Sie hat ein Beilagenheft mit Artikeln von verschiedenen Professoren gestaltet und dies flächendeckend der schweizerischen reformierten Kirchenzeitung beigelegt (2001). Dieses Beilagenheft wiederum blieb nicht unwidersprochen und führte zu einer etwas differenzierteren Auseinandersetzung mit meiner Kritik in einem Sammelband, der von Hans Jürgen Luibl und Sabine Scheuter (HG) «Opfer: verschenktes Leben» (DenkMal 3) Zürich 2001 herausgegeben wurde.

  1. Wie schätzt du die gegenwärtige Situation von Frauen in Kirche, Gesellschaft etc. ein? Was wünschst du dir für die Zukunft der Frauen?

In der Gesellschaft hat sich einiges getan. Allerdings hat dies auch dazu geführt, dass jungen Frauen und Männern die fehlende Gleichberechtigung in der Realität nicht mehr in die Augen springt. Gesetzlich ist vieles aufgegleist, aber der konkrete Alltag lässt weiterhin vieles zu wünschen übrig! Berufliche Entwicklungswege sind nach wie vor eng an traditionelle Familienmuster geknüpft: während ein Mann zwischen 26 und 40 die grossen Karriereschritte macht oder einleitet (mit einer Frau an seiner Seite, die ihn unterstützt, allenfalls auch die nötigen Ortswechsel vornimmt), ohne zwischen Kinder/Familie und Beruf entscheiden zu müssen, ist die Situation für Frauen eine andere. Auch die Ausgestaltung von Führungsjobs in der Wirtschaft oder politischen Ämtern führt dazu, dass entweder kinderlose Frauen oder Frauen nach der Familienphase sie wahrnehmen können. Teilzeitarbeit ist auch für Frauen meist ein Karrierekiller.
Die katholische Kirche gibt für mich noch ein düstereres Bild ab, schweiz- und weltweit. In der Schweiz eröffnen die sogenannten Pastoralkreise auch TheologInnen Zugang zu (Teil-)Leitungsfunktionen. Aber diese Pastoralkreise haben für mich weniger mit Pastoral zu tun als mit dem Versuch, die noch vorhandenen Priester möglichst flächendeckend zu verteilen: Das heisst, es ist ein hierarchisches Modell, von oben über die Realität gestülpt, im Interesse, die Machtstruktur der wenigen Priester zu stabilisieren.
Auch weltweit kann ich keine Zeichen erkennen, die eine grundsätzliche Gleichberechtigung und der Einbezug von Frauen, verheirateten oder aus sonstigen Gründen ungeweihten Männern anzeigen würden. Noch wenn der jetzige Papst wollte (aber er will gar nicht!), hätte er die grosse Mehrheit der kirchlichen Entscheidungsträger im Vatikan gegen sich, denn diese wurden allermeist noch von den Päpsten Woityla und Ratzinger zu Kardinälen ernannt. Auch schwule Männer unter den Priestern, Bischöfen und Kardinälen leben letztlich ein menschenunwürdiges Leben und sind in der kirchlichen Hierarchie leicht erpressbar. Angesagt wäre eine grundsätzliche Reflexion zum Umgang mit Macht, Körperlichkeit, Sexualität, Frauen – dem Menschenbild in Kirche und Theologie.

  1. Wie bekommen für dich deine Überzeugungen nach wie vor Hand und Fuss?

Zur Zeit spielen sich die feministischen und feministisch-theologischen Auseinandersetzungen vor allem in persönlichen Gesprächen ab. Wenn ich für Rituale an Lebens-Wende-Punkten angefragt werde, ist meine feministisch-theologische Grundhaltung natürlich immer spürbar. Die persönlichen Engagements mit und für Frauen verschiedenen Alters, die bleiben.
Ansonsten haben sich die Schwerpunkte meiner Lebensrealität seit 2019 verschoben, als mein Partner mehrere Hirnschläge erlitt und in der Folge davon in seinem sozialen und musikalischen Leben drastisch eingeschränkt wurde.

Vielen Dank Regula für das spannende Interview!
Esther Gisler Fischer.