Frau des Monats Januar/Februar 2022

Interview mit der Frau des Monats: Roswitha Golder

Geboren 1938 in Bern; Lizenziat in Theologie an der Uni Genf;
Diplom in Gefängnisseelsorge der Uni Bern; Doctor of Ministry des Wesley Theological Seminary in Washington, D.C; Studium in Lima mit Diplom für Englischunterricht als Fremdsprache;  Uebersetzerin und Sprachlehrerin für Deutsch und Englisch; Lebte mit ihrem Mann und drei Söhnen 20 Jahre in Lateinamerika; Seelsorgerin für die Genfer protestantische Kirche in einem Krankenhaus für Chronischkranke,
arbeitet seit Jahrzehnten ehrenamtlich als Teil des Pfarrteams der lateinamerikanischen Gemeinde für die evangelisch-methodistische Kirche in Onex/Genf; Pfarrerin der «Eglise protestante de Genève» im Unruhestand; geschieden, 7 Enkelinnen und 3 Urenkel.

Fotografin: Katharina van Rhoon:
Foto wurde am 9.9.2010 aufgenommen nach dem Gottesdienst zur Feier des “Jeûne genevois” (Genfer Fasttag).

Wie bist du im Verlaufe deines Lebens zur Feministischen Theologie gestossen und welche Protagonistinnen haben dich da geprägt?

Ich habe nach meiner Rückkehr aus Lateinamerika in Genf ein Theologiestudium angefangen, weil ich in Peru und Mexiko in Frauengefängnissen mit einer charismatischen Gruppe Besuche bei sogenannten «Maultieren» (Drogenkurierinnen, «mulas» auf Spanisch) machte und dabei merkte, dass mir Rüstzeug fehlte, um mit den Besucherinnen, dem Gefängnispersonal und den Gefangenen auf Augenhöhe über die Bibel und meinen Glauben zu sprechen. Ich suchte Antworten auf Fragen, die mich umtrieben und fand sie teilweise im offiziellen Programm der Fakultät in Genf.
De
r Zugang zu feministischer Theologie wurde mir jedoch damals eher durch Kolleginnen eröffnet, insbesondere durch Frauen, die beim ökumenischen Rat, beim lutherischen Weltbund oder im ökumenischen Forum christlicher Frauen in Europa aktiv waren. Wir hatten damals noch kaum Frauen als Professorinnen. Ruth Epting, eine der ersten Frauen, die in der Schweiz als Pfarrerin ordiniert wurde, war mir liebe Freundin, Mentorin, und Vorbild. Elisabeth Schüssler-Fiorenzas Gedankengut hat mich wohl am meisten geprägt.

Wo warst du selbst tätig und hast Feministische Theologie mitentwickelt, auf die Welt gebracht und/oder weitervermittelt?

Ich arbeitete sechs Jahre als Seelsorgerin für die Genfer protestantische Kirche in einem Krankenhaus für Chronischkranke. Zu meinem Leidwesen wurde ich gegen meinen Willen mit 55 frühpensioniert. Diese Massnahme betraf uns als Frauen härter, hatten doch manche von uns weniger Jahre im Pfarrdienst gearbeitet als unsere Kollegen, ihr Studium erst nach dem Aufziehen der Kinder begonnen wie ich, oder ihre berufliche Tätigkeit wegen der Doppelbelastung durch die Familie als Teilzeit ausgeübt, beziehungsweise für einige Jahre unterbrochen. Finanziell waren viele von uns deswegen weniger gut abgesichert als unsere Kollegen. Für mich war es vor allem eine grosse Enttäuschung und ein Schock.
Zum Glück ergab sich die Möglichkeit, mein Engagement in der lateinamerikanischen Gemeinde der Methodistenkirche, wo ich schon seit meiner Rückkehr in die Schweiz ehrenamtlich tätig war, auszuweiten. Seither bin ich dort Teil eines immer wieder neu zusammengesetzten Pfarrteams.
Die Gemeinde ist ein Bezirk der EMK, besteht vor allem aus Frauen, die als Hausangestellte in Genf arbeiten, oft sogenannte «Sans Papiers». Mit ihnen lerne ich, feministische Theologie in die Praxis umzusetzen, die Bibel in ihrem Kontext zu lesen und auf ihre Nöte und Bedürfnisse einzugehen.
Ein wichtiger Begriff ist mir dabei das «Empoderamiento» (Empowerment, «Ermächtigung» wäre wohl der entsprechende Begriff im Deutschen): Sie übernehmen in der Gemeinde wichtige Rollen, leiten zum Beispiel den Gottesdienst; lernen aber auch, in ihrem Alltag ihre Rechte einzufordern.
Wir arbeiten dabei mit dem HEKS zusammen, das mit seinen «Permanences volantes» wichtige Informationen zum Leben in der Schweiz, über HIV-Aids, Familienplanung usw. im Rahmen unserer Gottesdienste und während des gemeinsamen Mittagessens anbietet.

Zudem kümmere ich mich seit Jahrzehnten um das Wohlergehen der vielen in Genf existierenden Migrationskirchen: Diese kamen in den letzten Jahren mehr und mehr in den Fokus kirchlichen und universitären Interessens: Einige von ihnen sind seit Jahrhunderten in Genf aktiv, so z.B. die Lutheraner*innen, die schon während der Reformation mit einer Spezialbewilligung im calvinistischen Genf ihre Gottesdienste feiern durften. Auch die Anglikaner*innen und andere englischsprachige «Mainline Churches» haben sich schöne Gebäude gebaut und bieten vielen Expats aus allen Erdteilen eine geistliche Heimat. In den letzten Jahrzehnten haben sich jedoch viele kleinere Gruppierungen gebildet, so z.B. ganz verschiedene orthodoxe Kirchen, aber vor allem afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Gruppierungen, die sich zur Plattform «Témoigner ensemble à Genève» zusammenschlossen.
In Zusammenarbeit mit dem Internationalen Reformierten «Zentrum John Knox», dem Weltkirchenrat, und der Genfer Protestantischen Kirche wurde mir deren Koordination anvertraut. Das beiliegende Bild zeigt mich am Tag meiner Einführung in dieses Ehrenamt, das ich sechs Jahre innehatte. Bis heute liegt mir diese Arbeit sehr am Herzen.
Ich sehe in dieser interkulturellen Oeffnung unserer lokalen Kirchen eine Chance, die es nicht zu verpassen gilt: Während die drei offiziellen Schweizer Konfessionen an Mitgliederschwund leiden, wächst eine Vielzahl von internationalen oder durch Sprache und Kultur von Einwanderer*innen geprägten Kirchen. Ihnen gastfreundlich zu begegnen kann uns gegenseitig bereichern. Das CIC, ein interkantonales Informationszentrum zu Glaubensfragen in Genf,
https://cic-info.ch, bietet dazu ausgezeichnete Grundlagen und Sensibilisierung..

Welchen Stellenwert hatte feministisches Gedankengut innerhalb deiner Arbeit und wie floss feministische Theologie in deine Tätigkeiten ein?

Gleichberechtigung ist mir sehr wichtig. Die Einführung der Frauenordination ist für meine Generation ein Meilenstein. Sie ist aber bis heute in vielen Kirchen weltweit noch nicht verwirklicht. Ich bin seit Jahrzehnten Mitglied der «International Association of Women Ministers», die sich an allen Vollversammlungen des ökumenischen Rats für die Frauenordination einsetzt und dazu Workshops anbietet. In Karlsruhe werden wir in Zusammenarbeit mit Mission 21 wieder einen solchen durchführen. Diesmal wird es um Hindernisse gehen, die Frauen nach der Ordination in den Weg gelegt werden. Denn auch dort, wo Frauen theoretisch gleichberechtigt als Pfarrpersonen tätig sind, empfinden sie sich als «In but still out». IBSO, das Kürzel dieses Missstands war jahrelang die Bezeichnung eines Zusammenschlusses der Genfer Pfarrerinnen, die sich gegenseitig gegen Diskrimination verschiedener Prägung auflehnten. Ich habe viel von diesen Pionierinnen gelernt und bin ihnen dafür sehr zu Dank verpflichtet.

Welche Ansätze und Methoden sind dir besonders wichtig?

Ich verdanke der Befreiungstheologie viel und arbeite gerne mit Methoden der kontextuellen Bibelauslegung. Im Gottesdienst lesen wir oft den Bibeltext mit verteilten Rollen, das ermöglich
t einen neuen, sehr persönlich geprägten Zugang zum Text. Viele Frauen in meiner Gemeinde hatten früher nie eine Bibel in der Hand, diese ist für einige Katholikinnen immer noch «verbotene Literatur», dem Priester vorbehalten. Andere, aus evangelikalen Gemeinden verstehen sie ausschliesslich wortwörtlich, fundamentalistisch und haben damit ihre Mühe. Wichtig waren und sind für mich die Arbeiten zu Frauengestalten in der Bibel. Insbesondere Hagar ist für viele Lateinamerikanerinnen eine Neuentdeckung und eine potentielle Identifikationsfigur.

Gab es Reaktionen aus deinem Umfeld auf deine feministische Theologie/Arbeit?
Wenn ja, welche?

Für einige meiner – insbesondere männliche Kollegen – bin ich zu feministisch, für andere – meist weibliche – nicht genug. In dieser mittleren Position fühle ich mich wohl. Es geht mir nicht darum, nur Frauenanliegen zu vertreten, aber wo ich dies für nötig finde, setze ich mich mit allen meinen Kräften und mit grosser Hartnäckigkeit dafür ein.

Wie schätzt du die gegenwärtige Situation von Frauen in Kirche, Gesellschaft etc. ein? Was wünschst du dir für die Zukunft der Frauen?

Die Situation der Frauen in Kirche und Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten viel aber noch nicht genug verbessert. Ich bin froh, dass sich die jüngere Generation weiterhin für die Gleichberechtigung engagiert. Vieles ist für sie jedoch selbstverständlich geworden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in der Schweiz für Frauen immer noch schwierig; Betreuungsplätze für Kinder sind teuer und vielerorts Mangelware. Die Doppelbelastung durch Haushalt, Sorgearbeit und Beruf ist in vielen Familien immer noch nicht gerecht unter den Partner*innen verteilt. Eine meiner Enkelinnen beklagt sich allerdings, dass sie viel Kritik hört, weil sie ihren Beruf freiwillig zugunsten ihrer beiden Kleinkinder nur mehr auf Sparflamme, einen Tag pro Woche ausübt. Die Option einer solchen «Auszeit» ist offenbar für den Arbeitgeber möglich, wird aber von Kolleg*innen nicht goutiert!

Wie bekommen für dich deine Überzeugungen nach wie vor Hand und Fuss?

Ich versuche sie, tagtäglich, im Umgang mit meinen Mitmenschen in der Familie, in der Gemeinde, im Alltag und in der Freizeit umzusetzen.

Vielen Dank für das spannende Interview!

Das Interview mit Roswitha Golder führte Esther Gisler Fischer.