Feministische Theologinnen im Porträt: Noemi Honegger-Willauer, Spitalseelsorgerin in Meyriez-Murten und Doktorandin am Institut für Sozialethik an der Universität Luzern
Welchen Stellenwert hat feministisches Gedankengut innerhalb deiner Arbeit?
Für mich ist feministisches Denken eine Selbstverständlichkeit, weil die Gleichberechtigung von Frau und Mann eine Selbstverständlichkeit ist. Meine Eltern haben mir seit klein auf vermittelt, dass mir keine Grenzen gesetzt sind – nicht als Mädchen, nicht als Frau. Im Laufe des Erwachsenwerdens musste ich hin und wieder feststellen, dass es diese Grenzen doch gibt – nicht zuletzt innerhalb meiner Glaubensgemeinschaft. Das hat mich gelehrt, dass ich gemeinsam mit anderen Verbündeten einen für mich gangbaren Weg finden muss. Dasselbe gilt für die Vereinbarkeit von Familie und beruflicher Tätigkeit, was gesellschaftlich keine Selbstverständlichkeit darstellt: Mein Mann und ich sind als Paar herausgefordert, für unsere Vision einzustehen und gemeinsam stimmige Lösungen zu suchen. Gerade weil ich gesellschaftlich und kirchlich immer wieder an Grenzen stosse, wünsche ich mir, dass feministisches Gedankengut mich wachsam sein lässt für Strukturen und Denkmuster – auch meine eigenen –, die die Entfaltung von Menschen verhindern.
Wie fliesst feministische Theologie in deine Arbeit ein und wie kommt sie bei deinen Adressat*innen an?
Ich erlebe oft, dass nur die Tatsache, dass ich als junge Frau ein Krankenzimmer betrete und mich als Seelsorgerin vorstelle, einen Hauch von Feminismus ins Zimmer wehen lässt. Menschen zeigen Irritation und Faszination, weil ich ihre Vorstellungen von Kirchenvertretung kontrastiere. Dies bietet den Boden für gute Gespräche über Gott, das Leben, über Wünsche, Träume und Sehnsucht. In meinen Gesprächen mit Frauen und Männern, die nicht selten mehr als sechzig Jahre älter sind als ich, würdige ich ihre persönliche Lebensgeschichte. Gerade die Geschichten der betagten Frauen, die unermüdlich für Familie, Haus und Hof arbeiteten, gilt es wertzuschätzen! Sie dürfen stolz sein! Immer wieder begegnen auch ungewöhnliche Geschichten. Frauen, die weit gereist sind, die ein unabhängiges Leben geführt habe oder die die Hauptverdienerinnen in der Familie waren. Besonders wertvoll finde ich es, auf den reichen Schatz an biblischen Personen zurückzugreifen, die meist Genderstereotypen gerade nicht erfüllen. Ihre Geschichten geben Mut und Kraft! In meiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Wirtschaftsethikerin versuche ich herrschende ökonomische Deutungsmuster und Narrative zu durchbrechen und auf vernachlässigte Themen hinzuweisen. Dazu gehört zum Beispiel Care-Arbeit.
Wie beurteilst du das Verhältnis von ‚Feminismus‘ und ‚Gender‘ und wie haben diese beiden Konzepte einen Einfluss auf dein Theologietreiben?
Gender ist ein Analyseinstrument, um Gesellschaft, Politik und noch viel mehr zu analysieren. Es erlaubt, Muster, die über lange Zeit gewachsen sind und oft eine gewaltvolle Wirkung entfalten, zu erkennen und in einem weiteren Schritt zu durchbrechen. Feminismus geht ein lange tradiertes Muster aktiv an – nämlich feste Rollenbilder aufzuarbeiten und das Verhältnis zwischen Frau und Mann gleichberechtigt zu gestalten.
Braucht es in den Kirchen noch ‚Frauenförderung‘ oder ist die Gleichstellung der Geschlechter schon Realität?
Das ist eine rein rhetorische Frage, oder?
Wie bekommen deine Überzeugungen Hand und Fuss?
Indem ich mich selber mitbringe, in jedes Krankenzimmer, in jeden Hörsaal und damit immer wieder neu zeige, dass genau dort mein Platz als junge Frau und Theologin ist.
Das Interview führte Esther Fischer Gisler, Februar 2020