Psalm am Kochtopf

Mittag

zum wievieltausendstenmal

das Essen kochen

ermüdender Kreislauf

ich möchte anderes tun

meine Arbeit und mein Gefühl dabei

wie schnell sind sie verzehrt und

vergessen, Gott

das benutzte Geschirr

der leere Kochtopf bleiben mir

und morgen

das gleiche

nichts habe ich produziert

was die Wirtschaftsweisen Wachstum und

Aufschwung preisen ließe

der häusliche Arbeitsplatz

hochgejubelt

in politischen und in kirchlichen

Männermündern

ist keines Lohnes wert

weshalb

gibst du mir nicht

die Kraft zu streiken?

 

ich wasche Kartoffeln und setze sie auf

der Schalter am Herd gehorcht meiner Hand

die Linsen im anderen Topf beginnen

zu duften

ich schneide Porree, grünweißes Farbspiel

und herzhafte Würze

die Speckwürfel zischen in der Pfanne

goldfarbenes Öl gleitet in den Topf

 

ich öffne den Kühlschrank

finde, was ich brauche

rühre Quark, Milch und Zucker mit Apfelmus

ein köstlicher Nachtisch

 

bist du die Freude

göttliche Liebe

die mich jetzt hell und warm durchströmt

du Schöpferin

von Anbeginn

 

und plötzlich steht die schwarze Frau

Carolina Maria de Jesus an meiner Seite

sie muß in einer Favela von Sao Paulo

hausen

Carolina Maria de Jesus steht jeden Tag

um vier Uhr auf, sucht jeden Tag neu

durch Sammeln von Altpapier, leeren

Flaschen und Konservendosen

ihre drei Kinder von drei verschiedenen Vätern

liebevoll zu ernähren und zu erziehen

(hat sie dreimal an Liebe geglaubt

die dreimal von weißen Männern Verlass’ne?)

sie sagt voller Dankbarkeit:

wie schön ist es, ein Huhn im Topf zu kochen

wie freue ich mich, wenn meine Kinder gutes

Essen bekommen

 

schickst du ihre Stimme zu mir

umwirbst mich unsichtbar

daß ich Schwingungen empfange und verstehe?

du, heilige Freundin Weisheit

Musik in meiner Mitte

unendliche Lebensquelle

 

ja, es ist schöpferisch, Essen zu kochen

ja, es ist köstlich, begabte Hände zu spüren

kein Grund, das Frauenleben dem Kochtopf

gleichzusetzen

ja, es ist unverzichtbar

die Stimmen der Schwestern nah und fern

zu er-hören

über den Topfrand

über Grenzen

zu schauen

Schritte zu tun

 

Mittag

Mitte

mit

leidendes Suchen

die schwarze Frau Carolina Maria de Jesus

ist in bitterer Armut gestorben.

ihren Kindern verhalf sie zum Leben

ein Wunder?

40 000 verhungerte Kinder je Tag

eine mittlere Kleinstadt bei uns

sänke täglich in Todesstille

 

Mitte

sich sammeln

lauschen den Stimmen

der Stimme

einander mitteilen

teilen

Tischzeit für alle

am Reichtum der Erde

(aus: Christa Peikert-Flaspöhler (1995): Mit deinem Echo im Herzen. Neue Psalmen, Limburg 1995 (Lahn-Verlag))