Frau des Monats März/April 2024

Interview mit Irene Neubauer Gubler


Geboren 1959, Mutter von einem erwachsenen Sohn und zwei erwachsenen Töchtern und Grossmutter von drei Enkelsöhnchen, verwitwet.
Seit mehr als dreissig Jahren wohnhaft in Cressier FR, im Seebezirk des Kantons Freiburg.
Seit Januar 2024 pensioniert, aber weiter freiwillig engagiert im Bereich Asyl und hoffnungsvoll, Zeit und Energie zu finden sowohl für eigene Projekte wie fürs ziellose draussen Herumstreifen und für die Grosskinder.


1. Wie bist du im Verlaufe deines Lebens zur Feministischen Theologie gestossen und welche Protagonistinnen haben dich da geprägt?

Ich wuchs auf dem Land auf, mit zwei nur wenig jüngeren Geschwistern, mit einer klaren römisch-katholischen Sozialisierung. Den Glauben meiner Eltern erlebte ich als eine tiefe Verwurzelung und ein Gottvertrauen, das sich mir – vor allem auch rückblickend – als eine Art wohltuende Sorglosigkeit zeigte. Meine Eltern führten gemeinsam eine Gärtnerei. Meine Mutter entfaltete sich dabei erfolgreich als Floristin. Berufstätig zu sein als Frau und Mutter erlebte ich so als selbstverständlich. Es gab bei meiner Mutter aber eine seltsame Spannung zwischen Realität und inneren Vorstellungen. Letztere waren wohl stark beeinflusst durch die «Adrette-Hausfrau»-Ideale der 50er Jahre. Prägend war auch meine Appenzeller Grossmutter, bei der ich viel Zeit verbrachte. Sowohl sie wie meine Urgrossmutter widmeten sich am liebsten dem Sticken und machten sich eher wenig aus Kochen und anderen Haushaltsaufgaben. Meine Grossmutter war eine selbstständige, in sich ruhende und humorvolle Frau. Sie vermietete Zimmer an Menschen der ersten «GastarbeiterInnen»-Generation und wurde wegen ihres grossen Herzens und ihrer Toleranz von diesen sehr geschätzt. Für mich waren diese frühen Begegnungen mit Menschen anderer Herkunft wegweisend.
Entscheidend für meinen Lebensweg waren auch fördernde Lehrerinnen in der Primarschule und im Gymnasium. Ursula Huber, meine Lehrerin von der 4.-6. Primarklasse, kontaktierte meine Eltern, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich das Gymnasium besuchen könnte. Meine Eltern waren erfreut und stolz und haben mich auf diesem Weg immer unterstützt.
Nach der Matura entschied ich mich für ein Theologie-Studium, weil es die breiteste Palette an mich interessierenden Themen zu enthalten schien. Und ich entschied mich für Freiburg statt Luzern, weil es zu der Zeit dort nur die theologische Fakultät gab. In Freiburg waren wir ein Jahrgang mit fast gleich viel Frauen wie Männern, was damals eher neu und für uns Studierende sehr ermutigend war.

Ich studierte Theologie mit Schwerpunkt Religionswissenschaft und Ethnologie im Nebenfach. Die feministische Theologie wurde für mich sehr bald und wie selbstverständlich zum grundsätzlichen Ansatz, sei es in der Exegese, der Ethik, Dogmatik oder Kirchengeschichte. Die wichtigsten Protagonistinnen waren für mich die US-Theologinnen Mary Daly, Rosmary Radford Ruether und Carter Heyward, sowie Elisabeth Schüssler-Fiorenza und Catharina Halkes.
Ein Schlüssel-Ereignis war für mich die Ökumenische Versammlung 1989 in Basel mit einem Referat der beiden römisch-katholischen US-Theologinnen Mary Hunt und Dianne Neu auf dem Frauenboot zu Eucharistiefeiern von Frauen für Frauen. Auf die Frage aus dem Publikum, was denn ihr Bischof dazu sage, antworteten sie, sie würden das nicht tun, um den Bischof zu provozieren, sondern weil sie das gemeinsame Teilen von Brot und Wein im Namen Jesu als Stärkung und Ermächtigung ihrer Frauen-Gemeinschaft bräuchten. Aber wenn der Bischof reagieren wolle, dann dürfe er das gerne tun. Ich wäre am liebsten jubelnd aufgesprungen: Yeah! Endlich eine erwachsene Haltung. Just do it, statt zu jammern, wir wollen ja schon, aber die Bösen da oben lassen uns nicht.

Zentral wichtig ist für mich auch der ökofeministische Ansatz: Es war und ist mir ein tiefes Anliegen, dazu beizutragen, dass die Heiligkeit allen Lebens und unsere Einbettung darin als Leben unter Leben erkannt wird. Es ging und geht mir dabei auch darum, dass die Lebensweise und das Wissen der indigenen Völker über die Vernetzung alles Lebendigen endlich anerkannt werden, als was sie sind: ein unendlich wertvoller und für unser gemeinsames Überleben auf diesem Planeten unschätzbar wichtiger Beitrag. Das bedeutet für mich als bleibende Aufgabe: Befreiende Bescheidenheit einzuüben, als Mensch – ich bin einfach ein Glied in der Kette des Lebens. Und als Angehörige der – noch – dominanten Kultur, aufzuhören, uns für den Nabel der Welt zu halten.

2. Wo warst du selbst tätig und hast feministische Ansätze mitentwickelt, auf die Welt gebracht und/oder weitervermittelt?
– Lizenziatsarbeit: «Rassismus und Sexismus. Strukturelle Parallelen», 1987, Institut für Missiologie und Religionswissenschaft, Universität Freiburg.
Ich meine ohne falsche Bescheidenheit sagen zu können, dass ich mit der Analyse dieser Parallelen zwischen Rassismus und Sexismus, wozu es im deutschsprachigen Raum noch kaum Literatur gab, ein bisschen Pionierinnenarbeit geleistet habe. Und Ich konnte danach an verschiedenen Veranstaltungen über diese Arbeit referieren.
Es ging in meiner Analyse mehr um einen allgemein feministischen Ansatz und weniger explizit um feministische Theologie, aber das wissenschaftliche Arbeiten an diesem Thema hat mich nachhaltig geprägt, auch mein theologisches und religionswissenschaftliches Denken und meine Arbeit später in verschiedenen Feldern.
– Dissertationsprojekt zu «Frauen im Interreligiösen Dialog».
– Eucharistiefeiern von Frauen für Frauen: Just do it! Sehr schöne Feiern im Temple, der reformierten Stadtkirche in Freiburg.
– Gruppe christliche und muslimische Frauen in Freiburg: Anlässe u.a. zu Maria in der Bibel und im Koran.
– Artikel und Referate zu Maria in der Bibel und im Koran, zu Frauen in der Kirche, zum Gottesbild, zur Auseinandersetzung mit dem neuen Atheismus.
– Mitorganisation der Frauenkirchentreffen; Eröffnungsrede in Interlaken zum Thema «Macht».
– Als Vorstands-Mitglied des Interreligiösen Think-Tanks .
– Als Vorstands-Mitglied der interreligiösen Dachorganisation IRAS COTIS.

3. Wo und wie kam feministisches Gedankengut zum Tragen in deinem Leben und deinen beruflichen Tätigkeiten?
– Feministisches Gedankengut als Grundüberzeugung der Gleichwertigkeit von Frauen und daraus resultierend die Haltung, dass die reale Gleichstellung von Frauen in allen Lebensbereichen anzustreben ist, ist eine Grund-Melodie meines Lebens. Das ging im Privaten vom Antrag, auch offiziell wieder meinen Familiennamen zu tragen, sobald das gesetzlich möglich war über die Rücksendung von Briefen mit der Adresse «famille Christoph Gubler» mit der Begründung, es existiere keine Familie Christoph Gubler bis zu vielen Reisen als Frau alleine, zum Beispiel einmal quer durch die USA oder in die Türkei, nach Tunesien und Marokko.
– Darin, unseren Herren Genossen während des Studiums klarzumachen, dass die Unterdrückung der Frauen kein «Nebenwiderspruch» ist, sondern der zentrale Widerspruch.
– In der ersten Anstellung nach dem Studienabschluss in einer Stadtpfarrei in Freiburg: Ich gehörte zur ersten Generation der LaientheologInnen – ein Begriff, der per se eine beleidigende Abwertung ist – auch wenn wurzelnd in der römisch-katholischen kirchlichen Ämterhierarchie. Es ging darum, den Spielraum bestmöglich auszuloten – aber er war eben begrenzt, siehe weiter unten Frage 7.
– In meiner Anstellung als Assistentin am Institut für Religionswissenschaft der Universität Freiburg. Ich hatte in dieser Tätigkeit viele Kontakte mit Studenten aus Afrika und Asien, die kaum mit feministischen Ansätzen vertraut waren und es war mir ein Anliegen, sie dafür zu sensibilisieren.
– Als Redaktorin bei der Zeitschrift «WENDEKREIS» der Bethlehem Mission Immensee BMI. Hier hatte ich sehr viel Spielraum, feministische Ansätze in die Wahl und die Bearbeitung von Themen einzubringen und keinerlei Zensur.
– Im Leitungsteam der «offene kirche» Bern: Auch hier war der Spielraum gross, aber ich machte die Erfahrung, dass männliche Leitungspersonen auf sehr subtile Weise versuchten, mich «klein» zu halten.
– In der Seelsorge für Asylsuchende: Frauen ermutigen und stützen und versuchen, ein besonderes Sensorium zu entwickeln für frauenspezifische Probleme für die Flucht und auf der Flucht. Und, falls angezeigt, auch mal Jungs und Männer freundlich, aber klar in die Schranken weisen.

4. Welche Ansätze und Methoden sind dir besonders wichtig?
– Immer wieder und immer noch: Just do it! Nicht warten auf Erlaubnis von irgendwo und irgendwem.
– Auch Männer sind Menschen – Spass beiseite: Aufzeigen, dass Gleichberechtigung und Gleichstellung eine gerechtere und sichere Gesellschaft und damit ein besseres Leben für alle Menschen bedeuten, wo auch immer sie sich im Geschlechterspektrum verorten.

5. Gab es Reaktionen aus deinem Umfeld auf deine feministische Theologie/Arbeit? Wenn ja, welche?
Mit meiner Mutter ziemlich viele, zum Teil heftige Auseinandersetzungen, vor allem über «innerkirchliche» Themen, wie etwa die Autorität des Papstes, sonst innerhalb der weiteren Familie eher wohlwollendes Interesse oder auch Desinteresse, ähnlich im Freundes- und Bekanntenkreis. Durchaus möglich, dass es in unserem kleinen Dorf auch ablehnende Reaktionen gab, aber wenn, dann haben sie mich nicht direkt erreicht und darum auch nicht touchiert. Vielleicht hat es auch mit der Westschweizer Mentalität zu tun, der ich mich sehr verbunden fühle: Leben und leben lassen. Und ich habe mir aus natürlicher Neigung die welsche Art zu eigen gemacht, auch toughe Dinge liebenswürdig zur Sprache zu bringen. So sind die Leute oft erst mal verblüfft, statt sofort mit Abwehr zu reagieren.
Eher schwierig war es mit meinem «Doktorvater»: Er erfuhr meine dezidiert feministische Haltung wohl als Bedrohung seines Selbstverständnisses und die damit verbundene Erwartung, von Frauen in doppelter Lebensgrösse gespiegelt zu werden. So kam dann auch die Dissertation nicht zustande.

6. Wie schätzt du die gegenwärtige Situation von Frauen in Kirche, Gesellschaft etc. ein? Was wünschst du dir für die Zukunft der Frauen?
Gegen Ende meiner 14-jährigen Arbeit für die «offene kirche» Bern nahm ich einige Male teil an neu lancierten Runden der römisch-katholischen Theologinnen im Pastoralraum Bern. Ich war geradezu schockiert, von meinen tollen, gestandenen Kolleginnen zu hören, wie sich seit meiner ersten Anstellung in einer Kirchgemeinde vor dreissig Jahren nichts geändert hatte: Immer noch seien sie für Vieles abhängig vom Placet der Pfarrherren! Das Schlusswort meiner Lizenziatsarbeit ist ein Zitat von Cheryl Benard: «Denken allein genügt nicht. Mit einem schlechten Gewissen lässt es sich ganz gut regieren, und nichts ist vergesslicher als die Macht». Wie wahr, auch und gerade für die römisch-katholische Kirche!

Was mich im Moment beschäftigt, ist das Auseinander-Driften der politischen Einstellungen zwischen Frauen und Männern in der jungen Generation: Frauen immer linker, Männer immer rechter. Zusammen mit dem generellen Rechtsruck im globalen Norden ist das für mich ebenfalls Ausdruck des obigen Zitates: Viele, auch junge Männer, und eben auch besonders weisse Männer, tun sich nach wie vor schwer damit, Privilegien und Macht abzugeben. Was mir im Laufe des Lebens immer klarer wurde in ganz verschiedenen Feldern: Verdrängtes schlechtes Gewissen kann die Täter aggressiv machen gegen die Opfer. Das zeigt sich unter anderem in Rassimus und Sexismus, wie er sich in den sozialen Medien austobt. Und eine weitere Einsicht meiner Lizenziatsarbeit, dass Sexismus noch viel tiefer verankert ist als Rassimus, bewahrheitet sich auch immer wieder: Die römisch-katholische Kirche hat unterdessen viele PoC-Würdenträger, aber immer noch keine Frauen! Und ähnlich sieht es bei Führungskräften von Top-Banken und Internationalen Konzernen aus.
Dennoch bin ich nicht generell pessimistisch. Das Modell einer Gesellschaft, in der alle Menschen, ungeachtet ihres Geschlechtes und ihrer Herkunft, gleiche Würde, gleiche Rechte, gleiche Chancen haben, ist nach wie vor attraktiv, weltweit. Und es gibt für mich keine Alternative dazu, dieses Ideal mit aller Kraft zu verteidigen und seine Realisierung mit aller Kraft zu fördern.

7. Falls zutreffend: Was waren die Gründe, weshalb du dir eine Tätigkeit ausserhalb der Kirche gesucht hast?
– Der point of no return kam bei mir sehr schnell, nach wenigen Monaten im kirchlichen Dienst. Ich übernahm die Leitung eines Rosenkranz-Gebetes am Vorabend einer Beerdigung (wie im Kanton Freiburg üblich) stellvertretend für den Pfarrer. Am Ende spendete ich den Segen, statt ihn nur zu sprechen, ganz bewusst auch mit der entsprechenden Geste. Prompt trat ein, womit ich rechnete: Ein Teilnehmer beschwerte sich beim Bischof über diese Anmassung. Dieser kontaktierte meinen Chef, den Pfarrer. Der stellte sich schützend vor mich. Aber mir wurde klar: Diese Einschränkungen sind die Perspektiven im kirchlichen Dienst. Und darauf hatte ich Null Bock. Ich kündigte und damit war nach nur einem Jahr definitiv Schluss mit diesem Weg für mich.
– Ich habe aber die Verbindung nicht abgebrochen mit der römisch-katholischen Kirche und halte es noch mit «Auftreten, statt austreten», wenn auch im bescheidenen Umfang. Ich war immer wieder freiwillig engagiert, zum Beispiel als Organisatorin von Familiengottesdiensten und Inputs zur Fastenkampagne. Ich war auch kurzzeitig Mitglied des Pastoralrates unserer Gemeinde. Dort wurde einmal der bischöfliche Text «Des célébrations en attente du prêtre» thematisiert, also eine Weisung für Feiern ohne Priester. Auf meinen spontanen Kommentar: «Cela veut alors dire que dès qu’un petit prêtre pointe son nez à l’horizon, les laïques peuvent de nouveau partir» (sobald ein kleiner Priester am Horizont auftaucht, dürfen die Laien wieder verschwinden) folgte ein Schweigen wie nach einem Witz tief unter der Gürtellinie. Da wurde mir klar, dass meine Teilnahme in diesem Umfeld in diesem Gremium wie Fahren mit angezogenen Handbremsen ist, also reine Energie-Verschwendung. Zur Zeit bin ich Teil des LektorInnen-Teams und nehme mir die Freiheit, die Texte in einer konsequent inklusiven Sprache zu lesen und die Fürbitten bei Bedarf abzuändern. Und ab und zu werde ich gefragt, mitzuhelfen bei der Kommunion-Aussteilung. Das tue ich mit der Zusage «Jésus, ton frère» statt «Le corps du Christ».

8. Wie bekommen für dich deine Überzeugungen nach wie vor Hand und Fuss?
Nach wie vor gilt für mich die Devise «Walk the talk»: Wir sind nur überzeugend, wenn wir tun, was wir «predigen». Das war auch meine durchgehende Erfahrung als Mutter. Natürlich ist das ein Ideal, und oft genug ist es mehr ein Stolpern durch die alltäglichen und auch existenziellen Widersprüche als ein unbeirrtes Geradeaus-Gehen. Aber das ist kein Grund, aufzugeben.
Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass gerade das Anerkennen und Aushalten von zum Teil nicht auflösbaren Widersprüchen, Ambivalenzen und Gegensätzen, sowohl persönlich und privat wie gesellschaftlich und sogar international, eine Grundvoraussetzung ist, einigermassen friedlich zusammen leben zu können.

Vielen Dank für das spannende Interview!
Esther Gisler Fischer