Interview mit Catina Hieber
1945 geboren und aufgewachsen in Biel, im Anschluss an die Matur Studium der reformierten Theologie in Basel, Tübingen und Zürich. Nach ihrer Ordination und einer Weiterbildung in Holland in „Pastoral Clinical Training“ baute sie die kirchliche Beratungsstelle der reformierten Kirchgemeinde Uster auf. In den Jahren 1978 – 1986 lebte und arbeitete sie zusammen mit ihrem Mann und drei Kindern (1975, 1977, 1980) in Nordnigeria. Dort machte sie eindrückliche Erfahrungen in einer fremden Kultur, lernte die Lebensrealitäten von afrikanischen Frauen kennen und unterrichte an einem Lehrerinnen-Seminar. Zurück in der Schweiz war sie zuständig für Frauenbildung bei KEM, Bern (Kooperation Evangelischer Missionen) und von 1993 – 2007 als Studienleiterin für die Frauenstelle des Arbeitskreises für Zeitfragen in Biel. Dort lebt sie auch heute nach der Pensionierung. Sie ist Grossmutter von 6 Enkelinnen und 2 Enkeln.
1. Wie bist Du im Verlauf Deines Lebens zur feministischen Theologie gestossen und welche Protagonistinnen haben Dich da geprägt?
Aufgewachsen bin ich in einem fortschrittlichen Umfeld. Frauenrechte und eine gute Ausbildung für Mädchen waren meinen Eltern stets ein Anliegen. Bei jeder Gelegenheit betonte mein Vater privat oder als Lehrer, Mädchen seien genau gleich intelligent wie Knaben und sollten unbedingt die gleich gute Schulbildung bekommen. In besonderer Erinnerung ist mir folgende Szene, die sich ca. 1949 abspielte, zu einer Zeit, als das Frauenstimmrecht noch in weiter Ferne war. Mein Vater nahm mich mit zum Stimmlokal. Darauf verspotteten ihn einige seiner Berufskollegen als „Frauenrechtler“.
Nach der Matur 1964 studierte ich Theologie unter anderem auch deshalb, weil es mir attraktiv schien, mich in eine ausgesprochene Männerdomäne hineinzuwagen. In den Vorlesungen waren wir nur wenige Frauen und im Pfarramt gab es damals noch kaum Frauen. Das Theologiestudium in Basel, Tübingen und Zürich habe ich genossen, weil es mir weite Räume des Nachdenkens über Gott und die Welt eröffnete. Jedoch mit der Vorstellung, konkret ein Pfarramt zu übernehmen, hatte ich Mühe. Mir schwebte etwas Modernes, Aufmüpfiges vor. Gleichzeitig stellte ich mir Fragen, wie ich als Frau mit Frauen diskriminierenden Bibeltexten, männlich geprägten Gottesbildern und patriarchalen Mustern umgehen soll. Ich spürte ein Unbehagen, konnte dies jedoch noch nicht richtig formulieren.
In den Geburtsstunden der feministischen Theologie lebte ich in Nigeria, in doppelter Weise weitab vom Schuss. Wir lebten in einem kleinen Dorf, im Busch im Norden von Nigeria, ohne Strom und fliessendem Wasser. Den ganzen kulturellen Kontext zu schildern übersteigt diesen Rahmen. Doch dazu ein paar Stichworte. Bei uns im Dorf oder in der näheren Umgebung gab es keinen Laden für die alltäglichen Produkte, nur den Wochenmarkt. Die meisten Dorfbewohner:innen waren Selbstversorger:innen, so auch wir. Auch gab es kaum Kommunikationsmittel. Es gab keine Postverbindung (nur postlagernd 500 km entfernt) und kein Telefon. Das Zeitalter von Computer und Handy lag noch in weiter Zukunft. Kulturell bewegten wir uns in einem durch und durch patriarchalen Umfeld, gesellschaftlich und kirchlich. Trotzdem oder gerade deshalb war ich neugierig, die Realität der dortigen Frauen kennen zu lernen. Ich begleitete Frauen aus unserem Dorf in ihrem Alltag und interessierte mich für ihr Leben, das sich in einer Gesellschaft abspielte, in der die Rollen von Frauen und Männern klar getrennt sind und als Gott gegeben verstanden werden. Ich fragte nach ihrem eigenen Selbstverständnis und ihren Visionen.
Wir waren die einzige weisse Familie im Ort, zunächst mit zwei, später mit drei kleinen Kindern. Unser eigener Alltag war geprägt von Strategien zum elementaren Überleben. Neben einem recht aufwändigen Haushalt unterrichtete ich an einem Lehrerinnenseminar, war also unmittelbar im Bildungsbereich junger Frauen tätig. In diesem Umfeld stellte ich mir immer wieder Fragen zu Emanzipation, weiblicher Identität und der Auswirkung religiöser Prägungen auf die Identität von Frauen. Fragen rund um Emanzipation und Tradition beschäftigten auch mich persönlich und trieben mich um. Gesprächspartnerinnen gab es kaum. Für mich war es ein befreiendes „Aha-Erlebnis“, in Zeitschriften, die mir eine Besucherin mitgebracht hatte, erstmals von feministisch theologischen Ansätzen zu lesen, wie sie in den frühen 80er Jahren in Akademien wie Bad Boll, Paulus Akademie oder Boldern angedacht wurden. Nach unserer Rückkehr in die Schweiz 1986 sog ich diesbezüglich alles auf: von Mary Daly, Jutta Voss, Carter Heyward, Dorothee Sölle, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Luise Schottroff, Helen Schüngel-Straumann, bis zu Marga Bührig …
2. Welchen Stellenwert hatte feministisches Gedankengut für Deine Lebensgestaltung?
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehörte für mich von Anfang an zu meinem Lebenskonzept. Aus diesem Grund bin ich auch in der Kleinkinderphase immer einer selbständigen beruflichen Tätigkeit nachgegangen, was damals nicht üblich war. Ich war überzeugt, dass die Selbstbestimmung von Frauen einher geht mit einer gewissen ökonomischen Unabhängigkeit. Dafür habe ich mich immer wieder auf verschiedenen Ebenen eingesetzt. Als Mutter von drei Kindern, war es auch für mich nicht immer einfach, Beruf und Familie miteinander zu verbinden. Es gab kaum Krippenplätze und „Mittagstische“ waren ein Fremdwort. Zusammen mit ein paar engagierten Frauen organisierten wir den ersten privaten Mittagstisch an meinem damaligen Wohnort.
3. Wo warst Du selbst tätig, hast feministische Theologie mitentwickelt, auf die Welt gebracht und / oder weitervermittelt?
1993 bekam ich meine Traumstelle als Studienleiterin der Frauenstelle beim Arbeitskreis für Zeitfragen in Biel. Die Stelle war im Zusammenhang mit der Dekade „Kirchen in Solidarität mit den Frauen“ des ökumenischen Rates der Kirchen (1988-98) eingerichtet worden. Mein Auftrag war es, Frauenanliegen in die öffentliche Diskussion zu bringen sowie feministische Theologie, weibliche Spiritualität und die „Ermächtigung von Frauen“ zu fördern. In diesem Sinn durfte ich meine Herzensanliegen zum Beruf machen.
Ich genoss den grossen Handlungsspielraum dieser Stelle. Mir war es wichtig, auf verschiedenen Ebenen aktiv zu sein. Einerseits griff ich auf gesellschaftspolitischer Ebene Themen zu Fragen der Geschlechtergerechtigkeit auf und brachte sie in die öffentliche Diskussion, um damit etwas zu bewegen. Andererseits war es mir wichtig, spezifische Räume für Frauen zu öffnen zur Ermächtigung und gegenseitigen Stärkung. Dabei ging es um Themen rund um die Lebensrealität von Frauen, zu weiblicher Identität, sowie zur eigenen Körperwahrnehmung.
Gesellschaftspolitisches Engagement für Geschlechtergerechtigkeit
Auf gesellschaftspolitischer Ebene sind mir verschiedene Anlässe in besonderer Erinnerung. Am Aktionstag von Brot für Alle / Fastenopfer 1994 waren mehrere hundert Frauen aktiv. Wir zogen durch Biel und machten an verschiedenen symbolischen Orten Halt, wo wir mit zehn spektakulären Auftritten auf eine Ungleichbehandlung von Frauen und Männern an jenem spezifischen Ort aufmerksam machten. Vor der Beratungsstelle des Frauenhauses ging es um das Thema „Gewalt an Frauen“, vor dem Stadtratssaal kam die Untervertretung von Frauen auf politischer Ebene zur Sprache und vor dem Arbeitsamt die fragile und ungleiche Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Nachhaltige Wirkung erzielten wir auch mit Aktionen zum 8. März, dem Internationalen Tag der Frau und dem 14. Juni. Wir konnten einiges in Bewegung setzen. Doch einige der damals und im Laufe der weiteren Jahre angesprochen Themen sind heute nach 30 Jahren immer noch offene Baustellen.
Anderes, wofür die Frauenstelle auf lokaler und nationaler Ebene mitgekämpft hat, ist umgesetzt. Lokal z.B. werden die Selbstverteidigungskurse für Mädchen von der Stadt weiter subventioniert oder national wurden z.B. die gesetzlichen Grundlagen zur Fristenregelung (2002) oder für die Mutterschaftsversicherung (2005) geschaffen.
Frauen – Räume zur Ermächtigung von Frauen
Im Hinblick auf die individuellen Ebene entwickelte ich mit und für Frauen Kurse mit dem Ziel der Ermächtigung. Wir gingen verschiedenen Aspekten unserer Frauenrealität nach, hoben sie hervor und schauten genau hin. Auf diese Weise entstanden experimentelle Räume für Frauen mit vertieften, zum Teil auch intimen Gesprächen. Frauen nutzten die Gelegenheit, in geschütztem Rahmen ihre Erfahrungen auszutauschen, unausgesprochene Gedanken zu formulieren und Vieles auszuloten. Oft ging es um Fragen der eigenen Identität, um die Rolle von Frauen, aber auch um die verschiedenen Phasen im Frauenleben. Dabei wurde zunehmend der Umgang mit dem eigenen Körper und dessen Wahrnehmung wichtig. Ich denke dabei z. B. an einen dreiteiligen Kurszyklus unter dem Titel „Auf der Suche nach den eigenen Quellen“ oder jenem zu den weiblichen Lebensphasen „Weiss – Rot – Schwarz“, inspiriert von Jutta Voss. Aber auch bei Themen wie „Wechseljahre“, „Neuorientierung in der zweiten Lebensphase“ und verschiedenen Angeboten in Bibliodrama ging es darum, die eigene Körperwahrnehmung einzubeziehen. Immer wieder erwähnten Frauen bei späteren Begegnungen, wie prägend der eine oder andere Kurs für ihre persönliche Entwicklung war. Ein besonderes Highlight bedeutete aber auch die verschiedene Frauenreisen unter anderem jene zum Skulpturengarten von Niki de Saint Phalle in der Toskana. Dabei ging es nicht nur um die Erkundung einer eigenwilligen feministischen Künstlerin, sondern auch im Rahmen von Studieneinheiten um die persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Spiritualität.
Ökumenisch unterwegs
Zusammen mit der katholischen Frauenstelle gestalteten wir während mehr als einem Jahrzehnt ökumenische Frauenfeiern. Wir suchten nach einem stimmigen Ausdruck weiblicher Spiritualität und erprobten viel Neues. Immer wieder ging es um Aufbrüche und Sichtwechsel, sowohl in feministisch theologischen Weiterbildungen wie bei Kursen zu „Frauenbilder-Gottesbilder“, „Evas Töchter entschuldigen sich“ oder der Durchführung geschlechtergerechter Gottesdienste. Wir beteiligten uns auch an der Vorbereitung und Durchführung der 2. Frauen-Kirchen- Synode in Biel 2000 zum Thema „Sichtwechsel- Schichtwechsel“ oder in der Gestaltung des 3-jährigen Theologiekurses.
Blick in die weltweite Kirche
Mit meiner Vergangenheit in Afrika durfte der Aspekt der weltweiten Kirche nicht fehlen. Mit Veranstaltungen wie „fremde Blicke auf Vertrautes – Christologie aus der Sicht von Theologinnen aus Asien, Afrika und Lateinamerika“, „Spiritualität und weiblicher Körper – Sexualität in den Weltreligionen“, „Weibliche Weisheit in den Weltreligionen“ versuchte ich den lokalen Blick zu weiten und für Fremdes zu öffnen.
4. Welche Methoden sind dir besonders wichtig?
Wie erwähnt, war ich auf verschiedenen Ebenen engagiert. Deshalb kamen je nachdem unterschiedliche Methoden zum Zug.
Gründung des Netzwerkes „Frauenplatz Biel – Femmes en Réseau Bienne“.
Beim Antritt der Frauenstelle war ich überwältigt von der sehr lebendigen, wenn auch unstrukturierten lokalen Frauenbewegung in Biel. Um der Bewegung zu mehr Gewicht gegenüber Institutionen und Kontinuität zu verhelfen, unterstützte ich 1999 die Gründung des zweisprachigen Netzwerkes, bei dem sich mehr als 30 Organisationen sowie einige hundert Einzelpersonen zusammenschlossen. Auf vielfältige Weise sollte die Gleichstellung von Frauen in Biel gefördert werden. Gleichzeitig lancierten wir die zweisprachige Zeitschrift KulturELLE, die bis heute regelmässig erscheint. Zusammen mit dem Frauenplatz entwickelte ich neben kreativen Aktionen auch den historischen Frauenstadtrundgang Biel „Der andere Blick, un regard différent“.
Mitbegründerin der Beratungsstelle für Frauen „Frac“
Im Jahr 1999 beteiligte ich mich an der Gründung einer niederschwelligen Beratungsstelle rund um das Thema Frau und Arbeit. Sie ist unabhängig und existiert bis heute.
Methodische Vielfalt
Mir war es wichtig, unterschiedliche Kreise anzusprechen. Dazu gehörte eine Vielfalt im Angebot und in der Methode: Kurse, Einzelveranstaltungen, Vorträge, Podiumsdiskussionen, Bibliodrama-Abende sowie eine Langzeitausbildung in Form eines zwei jährigen evangelischen Theologiekurses.
5. Gab es Reaktionen aus deinem Umfeld auf Deine feministisch- theologische Arbeit?
Im Grunde gab es kaum negative Reaktionen auf meine Arbeit. Im Umfeld meiner Pensionierung gab es Stimmen, die meinten, dass sich eine Frauenstelle beim Arbeitskreis eigentlich erübrige. Glücklicherweise wurde aber mit Luzia Sutter Rehmann doch eine hoch qualifizierte Nachfolgerin gewählt.
6. Wie schätzest Du die gegenwärtige Situation von Frauen in Kirche, Gesellschaft etc. ein?
Was wünschst Du dir für die Zukunft der Frauen?
Sicher ist seit den Anfängen der feministischen Theologie in den 1970er Jahren in Kirche und Gesellschaft viel erreicht worden. Teilzeitstellen im Pfarramt waren damals unvorstellbar, werden jetzt aber von Frauen und Männern selbstverständlich in Anspruch genommen. Über weibliche Gottesbilder, inklusive Sprache in Gottesdiensten und explizit feministisch theologischen Ausbildungsgänge wundert man sich heute kaum mehr. Trotzdem bleibt im Hinblick der Geschlechtergerechtigkeit noch viel zu tun in Kirche und Gesellschaft.
Nachdem man in den 2000er Jahren eher den Eindruck bekam, die neuere Frauenbewegung sei an ein vorläufiges Ende gekommen und sich Tendenzen eines Backlashs breit gemacht hatten, stimmt es mich hoffnungsvoll, dass mit dem Frauenstreik 2019 wieder neuer Schwung in die Bewegung gekommen ist. Eine jüngere Generation von Frauen hat ihre Anliegen aktiv in die Hand genommen, Diskriminierungen benannt und ihre Forderungen klar formuliert. Gleichzeitig bin ich neugierig, wie sich die LGBTQ Bewegung und die damit verbundenen Anliegen der Inklusion gesellschaftlich auf die Geschlechtergerechtigkeit auswirkt.
7. Wie bekommen für Dich deine Überzeugungen nach wie vor Hand und Fuss?
Nach meiner Pensionierung 2007 habe ich vor allem an zwei feministisch theologischen Projekten mitgearbeitet. Für die „Konferenz der kirchlichen Frauen- und Genderstellen Deutschschweiz“ trug ich in den Jahren 2008 – 2010 Unterlagen für das Faktenblatt „merk.würdig“ zu Frauen – Kirche – Theologie seit 1985 zusammen, das die Breite des Engagements der kirchlichen Frauenbewegung auf einem Plakat sichtbar macht. Ebenso konnte ich eine Einheit zu „Religion und Biografie“ für den Theologiekurs der evangelisch-reformierten Landeskirchen im Themenbereich „Religionswissenschaft“ gestalten. Weiterhin bin ich in verschiedenen Projekten als Freiwillige engagiert. Privat verfolge ich gespannt und neugierig die Entwicklung meiner inzwischen acht Grosskinder im Alter zwischen 8 und 16 Jahren. Sechs sind Mädchen –Frauenpower!!
Vielen Dank für das spannende Interview!
Esther Gisler Fischer