Frau des Monats Januar/Februar 2023

Interview mit Ines Rivera-Gloor

Ines Rivera-Gloor, aufgewachsen in Basel,
Theologiestudium in Basel und Rom (Waldenserfakultät), Pfarrtätigkeit in Lugano, Lausanne und Basel,
zuletzt 12 Jahre im Basler Aids-Pfarramt für Frauen und Kinder. 22 Jahre lang als selber Betroffene mit Einelternfamilien
Lager in Venedig durchgeführt.
1 Sohn, 5 Enkel.
Mit Staunen erlebe ich mein Altwerden.

 

1. Wie bist du im Verlaufe deines Lebens zur Feministischen Theologie gestossen und welche Protagonistinnen haben dich da geprägt?

Eigentlich war mir als junger Theologiestudentin alles suspekt, was sich besonders mit der Situation der Frau beschäftigte. Als Frau war ich doch so viel wert wie ein Mann – das hatte mir meine Mutter vermittelt- da gab es nichts zu diskutieren. Ich gehörte zur ersten Generation in meiner Familie, die studieren konnte. Mein italienischer Grossvater hatte sich von der katholischen Kirche abgewandt, ein antiklerikaler Sozialist, erleichtert, dass man in Basel seine Kinder nicht taufen lassen musste, wenn man nicht wollte. Kirche und Staat waren bereits getrennt. So wuchs ich auf mit einer religionskritischen und skeptischen Mutter, die in der Schweiz eben einen Protestanten geheiratet hat. Ihr Skeptizismus steckt noch immer in mir. Kopfschüttelnd und erstaunt liess man mich Theologie studieren. Meine italienischen Verwandten luden mich ein zum Essen, füllten mein Glas mit Wein und boten mir eine Zigarette ein, spielten mit mir Karten und erklärten mich danach als normal geblieben.

Frauenanliegen interessierten mich lange nicht. Allerdings auch das Pfarramt nicht. Die Basler Kirche habe ich als Jugendliche vor allem als ständiger Kampfplatz zwischen Liberalen und sogenannt „Positiven“ erlebt. Mich interessierte aber die Theologie. Durch die Teilnahme an einem Studienlager in Agape lernte ich die Waldenserkirche kennen und studierte ein Jahr an ihrer Fakultät in Rom. Dies im entscheidenden Jahr 1968, als die Student*innenunruhen begannen und meine Kollegen es sich zur Pflicht machten, mich ahnungslose Schweizerin in die Grundlagen des Marxismus-Leninismus einzuführen. Dazu luden sie mich jeweils zum Kaffee in eine Bar ein. Ich schätzte an der Waldenserkirche, dass man in einer Hand die Bibel und in der andern die Zeitung hielt. Ich lernte in Italien und später in Spanien, wo ich ein ökumenisches Jahr verbrachte, die katholischen Basisbewegungen kennen und schätzen.

Erst im Pfarramt realisierte ich, dass ich «nur» eine Frau war und die Länge meiner Röcke mehr zählte als die Worte meiner Predigten. Als mir ein Kollege vorschlug, mich bei den neuen Kollegen vorzustellen, indem ich ihnen den Tee servierte, begehrte ich auf und schliesslich haben wir gemeinsam den Tee angeboten. Ich begann, über meine Rolle nachzudenken. Mein Vorbild war eine junge Waldenser Pfarrerin, Gianna Sciclone, die in Sizilien nach einem Zwist mit der Gemeinde einen Gottesdienst verweigert hatte. Sie wurde dann in eine andere Gemeinde geschickt.

Meine Arbeitserfahrungen machten mich kritisch und ich begann, feministische Literatur zu lesen und aufmüpfige Frauen zu beobachten. Ein wichtiges Vorbild wurden mir Marga Bührig und Else Kähler. Als ich nach Pfarramtsjahren in Lugano und in Lausanne nach Basel kam, wurde ich in eine Frauengruppe eingeladen, in der wir Mary Daly lasen. Langsam begann ich zu verstehen, warum mich die Dogmatik im Studium nie interessiert hatte. Das Leben zählt, nicht die ausgeheckten Theorien über Gott.

2. Wo warst du selbst tätig und hast Feministische Theologie mitentwickelt, auf die Welt gebracht und/ oder weitervermittelt?

An meiner ersten Stelle in Lugano fiel mir auf, dass ich erst als verheiratete Frau von anderen verheirateten Frauen aufgesucht wurde und durch praktische Fragen mit ihnen in Verbindung kam. Erst in Basel, wohin ich 1982 zügelte, erlebte ich den Aufbruch der kirchlichen Frauen. Und ich nahm begeistert an Frauensynoden teil. In der Gemeinde erlebte ich noch recht viel Patriarchat und übersah es geflissentlich. Als alleinerziehende Mutter und geschiedene Frau hatte ich keine Lust, mir weitere Schwierigkeiten einzuhandeln. Aber ich traf immer und überall auf aufgeschlossene Gemeindeglieder, die Neues denken wollten.

3. Welchen Stellenwert hatte feministisches Gedankengut innerhalb deiner Arbeit und wie floss feministische Theologie in deine Tätigkeit ein?

Das geschah selbstverständlich durch meine Predigten und meine Haltung. Ganz lange habe ich mich gar nicht als Feministin verstanden. Manchen galt ich als Linke und wurde teilweise auch angefeindet von rechtsdenkenden Kirchenleuten.

4. Welche Ansätze und Methoden sind dir besonders wichtig?

Ich habe gerne in Gruppen gearbeitet, meist mit Frauen, aber offen auch für Männer. Kleine Gruppen, die zusammen einen Bibeltext interpretieren, eine Predigt vorbereiten oder ein Buch lesen, das ist meine bevorzugte Arbeitsweise. Dass Jede und Jeder Gehör findet. Oft musste ich Interessierte selber ansprechen und in eine Gesprächsgruppe einladen, um jene Frommen auszuschliessen, die auf alles schon eine Antwort wissen und damit das Gespräch verunmöglichen.

5. Gab es Reaktionen aus deinem Umfeld auf deine feministische Theologe/Arbeit?

Wenn es den PredigtzuhörerInnen nicht passt, kommen sie einfach nicht mehr. Eine Reaktion war vielleicht, dass Katholikinnen oder Unkirchliche mich aufsuchten, weil sie endlich bei einem kirchlichen Menschen Gehör finden wollten (konnten?) und das in ihrem Umfeld nicht möglich war. Ich weiss nicht, wie viele in meinem Umfeld sich über meine Theologie Gedanken machten…

6. Wie schätzt du die gegenwärtige Situation von Frauen in Kirche, Gesellschaft etc ein? Was wünschst du dir für die Zukunft der Frauen?

Wir stehen vor einer riesigen Veränderung, auch in der Kirche. Die Frauen in der Kirche sollten schauen, dass sie die Männer irgendwie mitnehmen, sonst ist die Kirche der Zukunft nur eine Frauenkirche und das fände ich schade. Ich freue mich als alte Frau, dass es so viele selbstbewusste Frauen gibt und ich hoffe, dass sie heiter und unentwegt weitergehen, was immer die Zukunft bringt.

7. Wie bekommen für dich deine Überzeugungen nach wie vor Hand und Fuss?

Als Pensionierte versuche ich jene zu unterstützen, die selbstverständlich Feminismus leben und offen für Veränderungen sind. Wir in der Schweiz leben in einer privilegierten Situation, in mancher Beziehung. Wir brauchen Flexibilität, Offenheit und Liebe für das, was wir sehen und noch nicht sehen.

Das Interview mit Ines Rivera-Gloor führte Esther Gisler Fischer.