Marie Dentière wurde um 1490 oder 1495 in Tournai (im heutigen Belgien) geboren; sie stammte aus einer Adelsfamilie und war Priorin in einem Augustinerinnenkloster. Bereits frühzeitig schloss sie sich lutherischem Gedankengut an und verließ Anfang der 1520er Jahre ihr Kloster, um nach Straßburg zu gehen. Dort heiratete sie Simon Robert, einen Prediger, dem sie 1528 in die Schweiz folgte. Nach dem Tod ihres Mannes ging sie mit Antoine Froment eine zweite Ehe ein, auch er war ein Prediger und einer der Hauptakteure der Genfer Reformation. Marie Dentière, die aus ihren beiden Ehen mindestens drei Töchter hatte, ließ sich 1535 mit ihrer Familie in Genf nieder und unterstützte dort die Einführung der Reformation mit Wort und Tat.
Sie gab sich dabei nicht mit dem im Zuge der Reformation neu geschaffenen „Beruf“ der Pfarrfrau zufrieden, sondern forderte ein aktives und öffentliches Mitwirken der Frauen im kirchlichen Leben. Sie verfasste verschiedene Schriften, die uns erhalten geblieben sind. Zuerst 1536 anonym eine Geschichte der Genfer Reformation, in der sie ihre intellektuellen Fähigkeiten aber auch ihre theologischen und kirchenrechtlichen Kenntnisse unter Beweis stellt.
Bekannt geworden ist sie aber vor allem mit einer anderen Schrift, der Epistre très utile (1539), in der sie sich für eine aktive Teilnahme der Frau am Leben der Kirche und Gesellschaft ausspricht. Sie betont darin die Gleichheit aller Menschen vor Gott. „Ich frage“, so schreibt sie, „ist Jesus nicht genauso für die armen Unwissenden und Einfältigen wie für die Herren, die rasierten, tonsurierten und infulierten gestorben? […] Haben wir zwei Evangelien? Eines für die Männer, und ein anderes für die Frauen?“, und sie konstatiert mit den Worten aus Galater 3,28: „[…] alle sind wir eins in Jesu Christo, hier ist weder Mann noch Weib, weder Knecht noch Freier.“
Daneben enthält die Schrift eine Art „Katalog“ berühmter Frauengestalten aus der Bibel, wie z. B. Deborah und Ruth sowie insbesondere die Samariterin und Maria Magdalena, die mutig ihrem Auftrag, vor aller Welt das Wort zu verkünden, nachgekommen seien.
Und was sie schreibend forderte, lebte sie auch. Sie hat öffentlich geredet und gepredigt, und sich dabei nicht gescheut, auch Kritik an der kirchlichen Obrigkeit zu äussern. Calvin, der zuerst mit den Froments befreundet war, wandte sich ab von ihr. 1546 schrieb er missbilligend in einem Brief an Farel: „Neulich kam Froments Frau [Marie Dentière] hierher. In allen Kramläden, auf allen Straßen predigte sie gegen unsere langen Talare.“
Ihr Reden und viel mehr noch ihr Schreiben provozierten auch den Widerstand der Obrigkeit. Ihr Buch wurde kurz nach seinem Erscheinen eingezogen und verbrannt, der Verleger wurde vorübergehend in Haft genommen. Der Vorfall läutete den Beginn der Zensur im reformierten Genf ein. Nicht nur wurde Marie Dentière das Wort entzogen; im gesamten 16. Jahrhundert verließ kein einziges aus weiblicher Feder stammendes Werk mehr die Genfer Druckerpressen.
Danach gab es für Marie Dentière kaum mehr Möglichkeiten, öffentlich zu wirken. So hat sie später andere Wege gesucht, sich für ihre Ideen einzusetzen. Sie richtete in der Genfer Gegend ein Pensionat für junge Mädchen ein und konnte so ihren drei Töchtern den Zugang zu den biblischen Sprachen eröffnen.
Nach ihrem Tod geriet Marie Dentière lange in Vergessenheit. Doch ihre Schriften wurden wieder entdeckt, und heute steht ihr Gedenkstein immerhin in der Nähe des Reformationsdenkmals in Genf.
verfasst von Sabine Scheuter